Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki
Das war es, was ihm ins Herz schnitt.
Als er wieder zu Hause war, widmete er sich seinen Reisevorbereitungen. Wenn er sich beschäftigte, musste er wenigstens nicht nachdenken. Allerdings brauchte er kaum Gepäck. Kleidung für ein paar Tage, Waschzeug, Bücher für den Flug, Badehose und Schwimmbrille (beides nahm er überallhin mit), einen Taschenschirm. All das passte in eine Umhängetasche, die er als Handgepäck mit ins Flugzeug nehmen konnte. Er steckte nicht einmal einen Fotoapparat ein. Welchen Nutzen sollten Fotos haben? Er war auf der Suche nach einem lebendigen Menschen und offenen Worten.
Als er seine Reisevorbereitungen beendet hatte, nahm er seit Langem einmal wieder die drei Schallplatten mit Liszts Années de pèlerinage , gespielt von Lasar Berman, hervor. Es war fünfzehn Jahre her, dass Haida sie zurückgelassen hatte. Tsukuru hatte seinen alten Plattenspieler nur noch, um diese Platten zu hören. Er legte die Rückseite der ersten auf und setzte die Nadel auf.
Erstes Jahr, die Schweiz. Er setzte sich aufs Sofa und lauschte mit geschlossenen Augen. »Le mal du pays« war das achte Stück, aber das erste auf der zweiten Seite. Er fing oft damit an und hörte bis zum vierten Stück – »Sonetto 47 del Petrarca« – im zweiten Jahr in Italien. Dann endete die zweite Seite der Platte, und der Tonarm hob sich.
»Le mal du pays«. Die ruhige, melancholische Melodie verlieh der unbestimmten Traurigkeit, die sein Herz umfangen hielt, nach und nach einen Umriss. Als würde sich feinster Blütenstaub auf der Oberfläche eines transparenten Lebewesens niederlassen, sodass dessen gesamte Gestalt nun vor ihm auftauchte. Bald nahm es Saras Gestalt an. Sara in ihrem mintgrünen, kurzärmeligen Kleid.
Das Ziehen in seiner Brust wurde wieder stärker. Es war kein heftiger Schmerz. Eigentlich war es nur die Erinnerung an einen heftigen Schmerz.
Es ist nicht zu ändern, sagte Tsukuru sich. Jemand, der immer leer gewesen ist, kann nur leer bleiben. Wem konnte er einen Vorwurf machen? Alle, die zu ihm kamen, stellten fest, dass er leer war, und sobald sie es wussten, verschwanden sie. Und Tsukuru Tazaki blieb leer – womöglich noch leerer – und allein zurück. Das war alles.
Hin und wieder ließ ihm jemand ein bescheidenes Andenken zurück. Bei Haida waren es die Années de pèlerinage . Wahrscheinlich hatte er sie absichtlich in Tsukurus Wohnung liegen lassen. Auf keinen Fall hatte er sie einfach vergessen. Und Tsukuru liebte diese Musik. Sie war die Ader, die ihn mit Haida und auch mit Shiro verband. Sie war fein und zart, aber es floss noch rotes, lebendiges Blut in ihr, befördert durch die Macht der Musik. Sooft Tsukuru sie hörte, wurden seine Erinnerungen an die beiden lebendig. Mitunter hatte er das Gefühl, sie seien bei ihm und er höre sie leise atmen.
Beide waren irgendwann aus Tsukurus Leben verschwunden. Ganz plötzlich, ohne ihm einen Grund dafür zu nennen. Nein, er konnte nicht sagen, dass sie verschwunden waren. Sie hatten ihn verstoßen und im Stich gelassen, das kam der Sache schon näher. Natürlich hatten sie Tsukuru damit verletzt, und die Narben waren noch immer da. Doch neuerdings fragte er sich, ob es stattdessen nicht vielmehr die beiden waren, die unter einer Verletzung oder einer Störung litten.
Ich bin vielleicht ein leerer Mensch ohne Inhalt, dachte Tsukuru. Aber trotzdem gibt es Menschen, die sich gerade wegen dieser fehlenden Substanz für mich entschieden haben. Es kam ja auch vor, dass einsame Nachtvögel sich tagsüber auf den Dachböden namenloser Menschen einen sicheren Ruheplatz suchten, weil sie sich in diesen leeren, dämmrigen Räumen wohlfühlten. Eigentlich sollte Tsukuru sich über seine innere Leere freuen. Als die letzten Töne des »Sonetto 47 del Petrarca« verklangen, hob sich die Nadel, und der Tonarm schwenkte in die Halterung zurück. Tsukuru setzte ihn noch einmal auf den Anfang der Platte. Ruhig tastete die Nadel die Rillen der Platte ab, und Lasar Berman spielte das Stück erneut auf seine feinfühlige und wunderschöne Weise.
Nachdem er sich die Seite zum zweiten Mal angehört hatte, zog Tsukuru seinen Schlafanzug an und ging zu Bett. Er schaltete die Nachttischlampe aus und war dankbar, dass es nur tiefe Traurigkeit war, die sein Herz umfing, und nicht das schwere Joch der Eifersucht, das ihm zweifellos den Schlaf geraubt hätte.
Bald hüllte der Schlaf ihn ein. Es waren nur ein paar Sekunden, aber Tsukuru spürte die ersehnte Weichheit am
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