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Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki

Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki

Titel: Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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endlich. »Eine Ursache zieht immer mehrere Wirkungen nach sich. Das Problem ist wahrscheinlich gar nicht so leicht zu lösen. Weder für dich noch für mich.«
    »Natürlich nicht. Deshalb ist es wahrscheinlich nicht gut, wenn Dinge ungeklärt bleiben«, sagte Tsukuru. »Man kann Erinnerungen unter dem Deckel halten, aber man kann die Geschichte nicht auslöschen. Sagt meine Freundin.«
    Eri stand auf, ging zum Fenster, schob es auf und kehrte an den Tisch zurück. Der Wind bauschte die Gardinen, und das Boot klapperte in unregelmäßigen Abständen. Sie strich sich das Haar aus der Stirn, legte beide Hände auf den Tisch und sah Tsukuru an. »Vielleicht sind sie unter einem Deckel, der so fest geschlossen ist, dass er sich nicht öffnen lässt«, sagte sie.
    »Es gibt keinen Grund, ihn mit Gewalt zu öffnen. Das verlange ich gar nicht. Ich möchte nur mit eigenen Augen sehen, was das für ein Deckel ist.«
    Eri betrachtete ihre Hände auf dem Tisch. Sie waren viel größer und fleischiger, als er sie in Erinnerung hatte. Ihre Finger waren lang, die Nägel kurz. Er stellte sich vor, wie sie auf der Töpferscheibe den Ton formten.
    »Du sagst, ich hätte mich äußerlich verändert«, sagte Tsukuru. »Das stimmt, ich weiß es selbst. Nachdem ihr mich vor sechzehn Jahren aus der Gruppe ausgestoßen hattet, lebte ich ein halbes Jahr lang nur im Gedanken an den Tod. Er war das Einzige, an das ich ernsthaft dachte. Ich übertreibe nicht, wenn ich sage, dass ich bis an seine Grenze gelangte. Ich stand am Abgrund, spähte hinein und konnte den Blick nicht mehr abwenden. Aber irgendwie habe ich doch den Weg zurück in die Welt gefunden. Es wäre kein Wunder gewesen, wenn ich damals tatsächlich gestorben wäre. Im Nachhinein weiß ich, dass ich nicht ganz richtig im Kopf war. Vielleicht hatte ich eine Neurose oder Depression. Oder eine ähnliche Erkrankung. Jedenfalls war ich damals nicht normal. Da bin ich sicher. Nicht, dass ich verwirrt gewesen wäre. Ich war völlig klar im Kopf. Es herrschte totale Stille, nirgends ein Laut. Mir ist klar, dass das ein äußerst merkwürdiger Zustand war.«
    Tsukuru hielt den Blick auf Eris ruhige Hände gerichtet.
    »In diesen sechs Monaten verwandelte sich mein Gesicht von Grund auf. Meine Statur veränderte sich so sehr, dass mir meine Kleider nicht mehr passten. Wenn ich in den Spiegel sah, kam es mir vor, als hätte man mich in eine andere Hülle gesteckt. Natürlich könnte man einfach sagen, dass so etwas bisweilen im Leben vorkommt. Es war eben eine Zeit, in der ich den Verstand verlor und mein Gesicht und mein Körper sich radikal veränderten. Aber der Auslöser war eure Entscheidung, mich zu verbannen. Sie hat mich völlig verändert.«
    Eri hörte ihm wortlos zu.
    »Wie soll ich sagen – es war, als hätte man mich plötzlich nachts vom Deck eines Schiffes ins eiskalte Meer geworfen.«
    Kaum hatte Tsukuru dies ausgesprochen, wurde ihm bewusst, dass er Akas Beschreibung verwendet hatte. Er holte kurz Luft und fuhr fort.
    »In der Situation weißt du nicht, ob du gestoßen wurdest oder gefallen bist. Das Schiff fährt weiter, und du siehst aus dem kalten, dunklen Wasser zu, wie die Lichter auf Deck sich immer mehr entfernen. Keiner auf dem Schiff, weder ein Passagier noch die Mannschaft, weiß, dass du ins Meer gefallen bist. Es gibt nichts, woran du dich festhalten könntest. Noch heute verspüre ich manchmal die Panik von damals. Die Angst davor, dass meine Existenz abgelehnt wird und ich allein ins nächtliche Meer geschleudert werde, ohne zu wissen, was ich getan habe. Wahrscheinlich gehe ich deshalb nie tiefere Beziehungen ein. Und halte stets einen gewissen Abstand zu anderen.«
    Er breitete die Hände etwa dreißig Zentimeter weit aus, um den Abstand zu demonstrieren.
    »Natürlich kann das auch eine angeborene Eigenschaft sein. Vielleicht hatte ich schon immer die Neigung, eine Pufferzone zwischen mir und den anderen zu errichten. Aber als ich in der Schule mit euch zusammen war, habe ich nie an so etwas gedacht. Zumindest soweit ich mich erinnere. Aber das kommt mir schon wie eine Ewigkeit vor.«
    Eri legte sich die Hände an die Wangen und rieb sie langsam, wie um ihr Gesicht zu waschen. »Du möchtest also wissen, was vor sechzehn Jahren geschehen ist. Die ganze Geschichte.«
    »Ja«, sagte Tsukuru. »Aber davor möchte ich klarstellen, dass ich Shiro, ich meine Yuzu, nie etwas getan habe.«
    »Das weiß ich«, sagte sie und hörte auf, sich das Gesicht zu reiben.

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