Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki
Zeigefinger an die Schläfe. »Wir haben so viel Zeit miteinander verbracht, und ich habe dir auch gewisse Zeichen gegeben. Wenn du nur ein bisschen Hirn gehabt hättest, hättest du es ganz leicht merken können.«
Tsukuru überlegte, was das für Zeichen gewesen sein konnten. Aber ihm fiel nichts ein.
»Du hast mir nach der Schule öfter in Mathe geholfen«, sagte Eri. »Da war ich immer im siebten Himmel.«
»Du hattest die Differenzialrechnung nicht verstanden«, sagte Tsukuru. Ihm fiel ein, dass Eri manchmal rot geworden war, während er etwas erklärte. »Du hast recht. Ich habe völlig auf der Leitung gestanden.«
Eri lachte leise. »So viel dazu. Außerdem fühltest du dich ja mehr zu Yuzu hingezogen.«
Tsukuru wollte etwas sagen, aber Eri unterbrach ihn. »Du brauchst dich nicht herauszureden. Du warst nicht der Einzige. Alle waren in sie verliebt. Natürlich. Sie war so hübsch. Wie Schneewittchen. Ich nicht. Wenn ich mit Yuzu zusammen war, spielte ich immer die Rolle der sieben Zwerge. Aber da war nichts zu machen. Yuzu und ich waren seit der siebten Klasse befreundet. Mir blieb nichts anderes übrig, als mich mit der Situation abzufinden.«
»Heißt das, Yuzu war eifersüchtig? Weil ich dir gefiel?«
Eri zuckte mit den Schultern. »Das ist nur einer der möglichen Gründe. Ich kenne mich mit diesen psychoanalytischen Dingen nicht aus. Aber jedenfalls hat Yuzu bis zum Schluss fest geglaubt, dass du ihr in deiner Wohnung in Tokio mit Gewalt die Jungfräulichkeit geraubt hast. Das war für sie die unabänderliche Wahrheit. Und davon ist sie bis zu ihrem Ende nicht abgewichen. Bis heute weiß ich nicht, woher diese Sinnestäuschung kam und warum sie diese Form annahm. Niemand weiß es. Manche Träume sind realer und plastischer als die Wirklichkeit. Vielleicht hat sie einfach nur geträumt. Für dich tut mir das sehr leid.«
»Hatte sie Interesse an mir als Mann?«
»Nein«, sagte Eri knapp. »Yuzu interessierte sich für gar keinen Mann.«
Tsukuru runzelte die Stirn. »Soll das heißen, sie war homosexuell?«
Eri schüttelte wieder den Kopf. »Nein, ich meine etwas anderes. Auch mit Frauen hatte sie nichts im Sinn. Da bin ich ganz sicher. Allerdings hatte Yuzu schon früher immer eine starke Abneigung gegenüber sexuellen Dingen. Vielleicht sollte ich es lieber Angst nennen. Wie diese entstanden ist, weiß ich auch nicht. Wir haben über die meisten Dinge sehr offen gesprochen, aber über Sexualität fast nie. Ich bin, da kann man sagen, was man will, in dieser Hinsicht sehr offen, aber Yuzu wechselte sofort das Thema, wenn wir darauf zu sprechen kamen.«
»Was wurde nach der Fehlgeburt?«, fragte Tsukuru.
»Zuerst ließ sie sich von der Universität beurlauben. Aus gesundheitlichen Gründen. Sie war einfach in keinem Zustand, in dem sie unter Leute gehen konnte. Sie schloss sich zu Hause ein und ging überhaupt nicht mehr aus. In dieser Zeit entwickelte sie eine schwere Magersucht. Sie erbrach fast alles, was sie aß, und den Rest führte sie durch Einläufe ab. Wäre es so weitergegangen, wäre sie gestorben. Aber wir zwangen sie, zu einer speziellen Beratung zu gehen, und sie konnte aus der Krankheit herausfinden. Es dauerte ungefähr ein halbes Jahr. Eine Zeit lang war es ganz schlimm, sie wog fast nur noch vierzig Kilo. Sie sah aus wie ein Geist. Aber sie hielt durch und schaffte es mit Müh und Not, an eine akzeptable Grenze zurückzukehren. Ich besuchte sie jeden Tag, redete mit ihr, ermutigte sie, tat alles, was ich konnte. Nach einem Jahr war sie imstande, ihr Studium wieder aufzunehmen.«
»Aber warum wurde sie magersüchtig?«
»Das ist ganz einfach. Sie wollte, dass ihre Periode aufhört«, sagte Eri. »Wenn man drastisch an Gewicht verliert, passiert das. Genau das wollte sie. Sie wollte nie wieder schwanger werden und wahrscheinlich auch keine Frau mehr sein. Wäre es möglich gewesen, hätte sie sich die Gebärmutter entfernen lassen.«
»Eine sehr ernste Sache«, sagte Tsukuru.
»Das kann man wohl sagen. Deshalb blieb mir auch nichts anderes übrig, als dich zu opfern. Du hast mir damals so leidgetan. Wirklich. Ich wusste sehr wohl, wie grausam wir dich behandelten. Und am meisten schmerzte mich, dass ich dich nicht mehr sehen konnte. Ganz ehrlich. Es zerriss mir das Herz. Schließlich war ich in dich verliebt.«
Eri machte eine kleine Pause und betrachtete ihre Hände auf dem Tisch, wie um Ordnung in ihre Gefühle zu bringen.
»Aber ich musste dafür sorgen, dass Yuzu
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