Die Plantage: Roman (German Edition)
überhohem Stockmaß. Er beugte den muskulösen Hals, als sie herantrat und ihm mit der freien Hand durch die Mähne und über den Widerrist strich. Sein schwarzes Fell war von Schlamm und Blut verkrustet. Sie hob die Laterne, um sich das Zaumzeug genauer anzusehen. Die aufwendig gearbeitete Kandare mit Silberverzierungen an Kinn- und Stirnriemen war bestes englisches Handwerk, ebenso der schwere Militärsattel mit den weit ausschwingenden Sattelblättern. In einer der Satteltaschen fand sie zwei Pulverhörner und einen Beutel mit Bleikugeln, in der anderen steckte ein Holster mit zwei Pistolen. Sie nahm den Holster mit den Waffen heraus und legte ihn auf den Boden.
Hatte es nicht geheißen, die Kämpfe in dieser Gegend seien vorüber? Die Briten befanden sich auf dem Rückzug. Währenddie amerikanischen Truppen und Milizen aus Carolina und Virginia sie in Eilmärschen verfolgten, verschanzten sie sich in ihren Stützpunkten im Norden in der Hoffnung, sich mit General Clintons Armee zu vereinigen. Wie aber kam dann dieses voll aufgezäumte englische Kavalleriepferd hierher?
Das Tier schob hungrig das Maul in Antonias Hand. Sie streichelte ihm begütigend über die Nüstern; gleich würde sie Futter holen, doch zuvor wollte sie ihm den schweren Sattel abnehmen. Um beide Hände frei zu haben, stellte sie die Laterne auf den Boden. Als sie sich wieder aufrichtete, bemerkte sie aus dem Augenwinkel eine Bewegung. Sie wagte nicht, sich umzusehen, doch ihr Herz schlug immer schneller, während sie mit mechanischen Handgriffen anfing, die Schnallen des Sattelgurts zu lösen. Und auf einmal bemerkte sie auch den Geruch: Die Ausdünstungen des warmen Pferdekörpers hatten ihn zunächst überdeckt, nun erkannte sie den brandigen Gestank nach Blut und Pulverrauch, der so viele Wochen die Luft über dem Landstrich verpestet hatte. Er weckte Erinnerungen an Geschützdonner, an die Schreie der Soldaten, an brennende Häuser und fliehende Menschen, an Sterbende und Tote. Wer immer dort im Dunkeln hinter ihr stand, ihn umgab der Geruch des Todes.
Angst wallte wie Übelkeit in ihr auf. Um nicht die Nerven zu verlieren, sprach sie beruhigend auf das Pferd ein. Als sie den losen Sattel mit beiden Händen packte, um ihn vom Pferderücken zu nehmen, wurde sie sich seines beträchtlichen Gewichts bewusst und erkannte ihre Chance: Sie spannte Arme und Schultern, atmete tief ein, und dann schwang sie den schweren Sattel in einer fließenden Bewegung über die Kruppe des Pferdes und schleuderte ihn mit aller Kraft hinter sich.
Der massive, holzverstärkte Sattelbug traf den Mann aus nächster Nähe, rammte ihm gegen Brustbein und Solarplexus. Ein Steigbügel schlug ihm an die Schläfe, ehe die Wucht des Aufpralls ihn gegen einen Stützpfeiler warf und er lebloszu Boden sank. Blut rann aus einer Schläfenwunde und aus seinem Mundwinkel. Als Antonia die Laterne über ihn hielt, glaubte sie, er sei tot.
2.
Im Januar 1781, nach Henrys Tod und nachdem ihre Plantage durch einen Anschlag britischer Truppen unbewohnbar geworden war, hatte Antonia bei ihrer Schwester Lydia im besetzten Charles Town Zuflucht gefunden. Inzwischen waren Monate vergangen. Der Revolutionskrieg hatte seinen erbitterten Höhepunkt überschritten, und das Gros der Invasionsarmee war nach Virginia abgezogen. Aber noch immer hielten britische Regimenter Charles Town und die Forts um die Stadt besetzt.
Während Lydia es verstand, sich eigennützig mit den Besatzern zu arrangieren, war Antonia es gründlich leid, in Gesellschaft der arroganten britischen Offiziere gute Miene zu wahren. Nachdem man sie schließlich mit anderen rebellisch gesinnten Bürgern gezwungen hatte, der öffentlichen Hinrichtung des berühmten Milizkommandeurs Hayne beizuwohnen, verließ sie die Stadt und verbrachte den Rest des Sommers zurückgezogen in ihrem Elternhaus auf Prospero Hill.
Ihr Großvater hatte das große Haus auf dem Hügel mit den prächtigen, über zwei Stockwerke reichenden Kolonnaden zu Anfang des Jahrhunderts erbaut. Von den Eingangsstufen reichte der Blick über die weite Ebene der Reisplantagen hin zum trägen Lauf des Cooper River, der in der Abendsonne aufleuchtete wie ein verschlungenes Band aus Gold.
Drei Generationen zuvor waren die Bells nach Carolina gekommen, anglikanische Auswanderer, die auf der Flucht vor Cromwells Truppen ihre Heimat in Südengland hatten verlassen müssen. Hatte der erste Robert Bell noch eigenhändigdas Land um seine moosverfugte Blockhütte am
Weitere Kostenlose Bücher