Die Plastikfresser
entschloß sich zu einem Neglige – und dann brach sie angesichts der theaterhaften Situation – dazusitzen und auf einen Ehemann zu warten, der einen anklagenden Brief auf dem Tisch vorfindet – in ein hoffnungsloses Kichern aus.
Später wurde sie wieder nüchtern; sie fror, sie ängstigte sich und zog Schlafanzug und Morgenmantel an. Gegen elf Uhr hatte sie pochende Kopfschmerzen und fühlte sich elend. Um halb zwölf klingelte das Telefon. Es war Kramer.
Diesmal war seine Stimme fast brüsk, sachlich.
»Tut mir leid, Liebling, ich habe überhaupt keine Chance, hier wegzukommen.« Das klang müde und überarbeitet. »Du mußt mich entschuldigen. Wir sind hier eingeschneit. Bis über die Ohren. Vor morgen ist es überhaupt nicht mehr zu schaffen. Das verstehst du doch, nicht wahr?«
»Ja«, sagte Anne müde. Am frühen Abend hätte sie den Kampf noch aufgenommen, da hätte sie ihm entsprechend geantwortet, hätte ihm etwas erzählt. Aber nun fühlte sie sich mürbe, kalt und krank. Ihre Stimme war fast nur noch ein Flüstern.
»Ja, so ist es nun mal«, sagte Kramer. »Ich sehe dich also morgen. Und nun paß gut auf dich auf, Baby.« Er hängte ein.
Es gab zu viel zu denken, zu viel zu überlegen. Anne ging ins Bett und nahm – gegen den Rat ihres Arztes – Schlaftabletten.
Vor dem Einschlafen erinnerte sie sich noch, daß sie sich vernünftig anziehen mußte, wenn sie am nächsten Morgen mit Gerrard in den Untergrund stieg.
Am nächsten Morgen stand Anne früh auf. Der Schlaf hatte sie aus dem verwirrten Dickicht ihrer Gedanken herausgeholt. Ihre Gedanken waren klar. Sie zog sich an, ging ins Schlafzimmer, setzte sich an den Tisch und schrieb Kramer einen Brief.
Wie immer, zeigte sich auch in diesem Brief ihre gute Erziehung und ihre lebenslange Gewohnheit, alle Empfindungen zu verbergen. Der Brief ließ, wenn überhaupt, nur wenige persönliche Gefühle erkennen. Sie wußte, daß er sie seit Jahren betrog, es war ein Betrug an ihrer Ehe. Diese Ehe wollte sie nicht mehr weiterführen. Sie war überzeugt, er würde anderswo eher Befriedigung finden. Und hier, in diesem letzten Satz, verriet sie eine Winzigkeit ihrer wahren Empfindungen.
Bevor sie den Brief versiegelte, überlas sie ihn noch einmal hastig. Er war kurz, kalt und sachlich. Wenn der Brief in einer Scheidung als Beweismittel Verwendung finden würde, dann – so überlegte sie bitter – würde er wohl für eine gefühllose, kalte Ehefrau zeugen. Aber jetzt blieb keine Zeit mehr, darüber nachzudenken. Die Entscheidung mußte gefällt werden. Sie versiegelte den Brief und stellte ihn auf den Kaminsims.
Vor der Haustür winkte sie ein Taxi herbei und ließ sich zu ihrer Verabredung mit Gerrard und Slayter fahren.
7.
»Wir müssen hier entlang.« Holden, der Generaldirektor der Londoner U-Bahn sprang leichtfüßig vom Bahnsteig, wandte sich um und bot Anne Kramer seine Hilfe an. Hintereinander folgten ihr Gerrard und Slayter und kletterten vom Bahnsteig herunter. Sie standen neben der Stromschiene.
Holden blickte auf seine Uhr. »Hier wird nur in der Verkehrsspitze ein Pendelverkehr betrieben. Es sind jetzt keine Züge zu erwarten. Herr Bahnhofsvorsteher?« Er wandte sich an einen dicken Mann in mittleren Jahren mit einer Uniformmütze, der neben ihm stand und dessen Gesicht dunkelrot von gefährlich hohem Blutdruck und chronischer Bronchitis war. Der Bahnhofsvorsteher atmete jetzt schon röchelnd vor Erschöpfung und sagte schnaufend: »Der letzte ist um zehn Uhr zehn durch, Sir.«
Holden wandte sich den anderen zu. »Gut, also machen wir uns auf den Weg.«
Er trug eine große Stablampe, mit der er in den Tunnel leuchtete. Der Bahnhofsvorsteher hatte auf der Schalttafel am Bahnsteig die Arbeitslichter eingeschaltet. Der Tunnel wies hier eine leichte Biegung auf, eine Reihe von nackten Birnen spendete bleiches Licht und ließ die Rippen der Verstrebungen erkennen.
»Gehen Sie vorsichtig«, sagte Holden. »Der Strom ist noch eingeschaltet.«
»Ist das nicht gefährlich?« Slayter blickte ihn fragend an.
»Nur, wenn Sie zwischen diese beiden Schienen fallen.« Er zeigte es ihnen: »Das ist die Leitschiene, die hier in der Mitte ist die Erdung. Man muß beide gleichzeitig berühren, um einen Schlag zu bekommen.«
Anne griff, ein wenig nervös geworden, nach Gerrards Arm.
»Hier entlang!« Holden übernahm die Führung, gefolgt von Slayter, Gerrard und Anne. Der Bahnhofsvorsteher bildete die Nachhut. Nach einigen Metern lag die
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