Die Plastikfresser
Liebstes. Gute Nacht.«
»Gute Nacht«, sagte Anne, aber er hatte schon eingehängt, bevor sie noch ›Nacht‹ sagen konnte.
Sie ließ sich ins Bett zurückfallen und fühlte sich plötzlich schwach und leer. Sie blickte wieder auf den Brief. Der Poststempel trug das Datum des Vortages, und die fremde Frau hatte geschrieben, sie würde Kramer im Büro anrufen. Der Zusammenhang war offensichtlich, und irgendwie, fühlte Anne sich nun, da das Schlimmste eingetreten war, viel wohler. Sie hob den Briefumschlag, drehte ihn um und betrachtete noch einmal den Absender. Dr. Sharon Gerrard. Gerrard? Dieser Name … natürlich … der große, ziemlich schüchterne Kanadier, der sie an diesem Nachmittag zur Spielwarenabteilung begleitet hatte!
Sie dachte über den Mann nach, der so behutsam ihre Schulter untersucht hatte und der ihr so offensichtlich zugeneigt war. Es war etwas Vertrautes in seinem Gesicht, in seinen vornüber geneigten breiten Schultern, seiner massigen Gestalt. Wie Yves Montand, das mußte es sein. Er sah ein wenig wie Yves Montand aus. Keine deutliche Ähnlichkeit, sein Haar war heller, aber es reichte doch für das vage Gefühl, daß man ihn kannte, schon einmal gesehen hatte.
Anne erinnerte sich, gehört zu haben, daß Gerrards Ehe gescheitert sei. Kramer hatte sich drüben in Kanada sehr mit ihm angefreundet und ihn nach England eingeladen. Plötzlich saß sie aufrecht im Bett. Mit den Briefen hatte es angefangen, als Kramer von seiner Kanadareise zurückgekehrt war. Augenblick mal! … Er hatte doch in jenen drei Monaten bei den Gerrards gewohnt!
Zum erstenmal empfand Anne nun wirklich den Schmerz verletzten Stolzes. Sie hatten sich zwar in den letzten beiden Jahren ständig auseinandergelebt, aber sie hatte doch nie daran gedacht, daß er schon am Anfang ihrer Ehe eine Affäre gehabt haben könnte. Das war schrecklich! Das war Verrat an allem: an ihren Plänen, an ihren Idealen, an ihrer Zukunft – an allem!
Und was war mit Gerrard? Hatte Kramer seine Ehe zerbrochen? Und ihn dann engagiert? Das große Glas Gin, das sie getrunken hatte, begann zu wirken, und die Anspannung der letzten Stunden zeigte ebenfalls ihre Wirkung: sie trieb in einen unruhigen Schlummer hinein.
Am nächsten Morgen wachte sie um neun Uhr auf und fühlte sich müde; sie glaubte Fieber zu haben. Ihr Arm war steif, aber sonst fühlte er sich schon besser an. Der blaue Fleck auf ihrer Schulter hatte sich zu voller Blüte entwickelt.
Beim Anziehen kristallisierten sich die nächtlichen Gedanken zu einem festen Entschluß. Heute abend würde sie sich Klarheit verschaffen. Alles war besser als das Schweben im luftleeren Raum, das sie nun schon zwei Jahre lang durchlebte. Irgendwie war die Entdeckung seiner Untreue fast schon eine Erleichterung. Es war besser, einem Gegner aus Fleisch und Blut gegenüberzustehen als dem Gefühl, daß er einfach nur das Interesse verloren hätte.
Und was war mit Gerrard? Sollte sie es ihm sagen? Was nützte es? Waren die Gerrards geschieden? Sicherlich lebten sie getrennt, und das auch schon seit einiger Zeit. Sie überkam ein warmes Gefühl der Zuneigung für Gerrard. Er war betrogen worden, genau wie sie. Zum erstenmal flog die Spur eines Lächelns über ihre Lippen. Wenn man schon seine Kräfte zusammenlegen mußte, dann konnte es ihr viel schlimmer gehen als dem großen, attraktiven Wissenschaftler.
Später rief sie Gerrard im Labor an und erkundigte sich, was der Test mit der Plastikschaltung ergeben habe. Gerrard berichtete, daß Wright beschlossen hätte, die Tests zu verschieben. Er erzählte ihr auch von dem Signalversagen in der U-Bahn, und daß er die Sache am nächsten Tag untersuchen wolle. Sie bat ihn, mitkommen zu dürfen, und nach einem kurzen Zögern – sie spürte seine Überraschung – war er einverstanden. Er war sich nicht ganz sicher, warum er zugestimmt hatte. Vielleicht, weil er seine Stellung in der Gruppe verstärken konnte, wenn die Frau des Chefs ihn begleitete. Er hatte jedoch nicht die Absicht, in der Gruppe zu erzählen, daß er dorthin ging, sondern erst bei seiner Rückkehr, wenn er Proben von der Isolierung geholt hatte. Aber vielleicht spielte auch der Gedanke, Anne wiederzutreffen, eine Rolle.
An diesem Abend kleidete sich Anne sorgfältig in ihren besten seidenen Hausanzug und rüstete sich mit einer Ginflasche für die Konfrontation. So wartete sie auf Kramer. Drei Stunden vergingen. Der Gin machte sie ziemlich betrunken, sie zog den Hausanzug aus und
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