Die Plastikfresser
ungewöhnlich glücklich gewesen. Kramer hatte alle seine Energien auf sie und ihre Ehe verschwendet, er hatte jeden Winkel ihres Seins mit seiner sprühenden Fantasie ausgeleuchtet, er hatte ihr Leben vollkommen ausgefüllt. Dann kam die Reise nach Kanada und unmittelbar danach der Aufbau der Beratungsfirma in London.
Die Veränderung war allmählich erfolgt. Es begann mit den gesteigerten Anforderungen, die seine neue Arbeit an ihn stellte. Damals war sie stolz darauf gewesen, die Last mit ihm zu teilen. Und er war stolz auf ihr Interesse und dankbar für ihre Hilfe gewesen. Die Struktur der Gruppe hatten sie zusammen entworfen. Im Anfang war sie bei allen Konferenzen dabeigewesen, hatte Kaffee gekocht und Berichte getippt …
Ihre Gedanken wanderten zurück, und sie versuchte, sich genau den Augenblick vorzustellen, in dem die Veränderung begonnen hatte.
Sie lag nun im Bett, von dem Schmerz in der Schulter war nur noch ein dumpfes Pochen geblieben. Seit sieben Uhr wartete sie auf Kramers Heimkehr. Es war nun zwei Uhr in der Nacht – und noch kein Zeichen von ihm, kein Anruf, nichts. Er hatte versprochen, früh nach Hause zu kommen. Sie hatte vorgehabt, gemütlich mit ihm in einem japanischen Restaurant zu Abend zu essen und dann die Spätvorstellung im Players Theatre zu besuchen.
Das war nicht das erstemal. So sah seit fast zwei Jahren ihr Zusammenleben aus. Aber heute war ein besonderer Abend – es war der Jahrestag ihres ersten Kennenlernens, das unter einigermaßen spektakulären Umständen in der großen Halle des alten Völkerbundpalastes in Genf stattgefunden hatte, wo sie damals beide an einem wissenschaftlichen Kongreß teilgenommen hatten.
Sie wußte, daß er, wenn er nach Hause kam, kein Wort der Erklärung oder gar Entschuldigung finden würde. Die Arbeit nahm in seinem Leben den ersten Rang ein, seine Arbeit durfte nie in Frage gestellt werden – und er auch nicht.
Sie versuchte, sich klar darüber zu werden, an welchem Punkt es angefangen hatte, daß das Beratungsbüro und – obschon sie sich das selbst noch nicht ganz eingestehen wollte – auch ihre Ehe mehr und mehr von ihrer ursprünglichen Inspiration verloren. Vielleicht lag es an Wright und seinen Erfindungen. Bis zur Erfindung von diesem Plastikzeug hatten sie beide eine aufregende, wenn auch wenig einträgliche Zukunft vor sich gesehen – eine kleine Gruppe von Wissenschaftlern, die die Probleme der Welt diskutierte.
Sie waren damals alle von der Idee besessen, daß die Wissenschaft der Menschheit dienen müsse und nicht nur eine isolierte intellektuelle Übung sein dürfe. Der Ansporn für die Entwicklung dieser neuen Wissenschaft – einer Wissenschaft für die Menschheit – war hauptsächlich von Kramer ausgegangen, aus seiner profunden Gelehrsamkeit, aus seiner philosophischen Weisheit. Doch dann hatte sich fast über Nacht die Gelegenheit geboten, die Gruppe ungeheuer wohlhabend zu machen, sie zu dem dynamischen Konzern zu schmieden, den sie heute darstellte. Wright war der Gruppe beigetreten und hatte seine neue Plastikformel eingebracht – das Aminostyren.
Kramer hatte danach gegriffen, weil er darin eine Chance sah, eine solide finanzielle Grundlage für andere Projekte zu schaffen, doch mit der Zeit hatte die Plastikforschung alle anderen Pläne der Gruppe überschattet und schließlich erstickt. Kramers neue Projekte waren fast ausschließlich kommerziell. Der neue Geist der Wissenschaft, der sie alle erregt hatte, war verflogen.
An diesem Abend, als sie, müde hungrig und von Schmerzen gepeinigt, auf ihn wartete, hatte sie sich zu einem Entschluß durchgerungen, den sie vorher nicht einmal für denkbar gehalten hatte.
Sie war in sein Arbeitszimmer gegangen, hatte seinen Schreibtisch geöffnet – das Heiligste aller seiner heiligen Dinge, den nicht einmal die Putzfrau berühren durfte – und einen Brief aus der obersten Schublade genommen. Dieser Brief lag nun unter ihrem Kopfkissen, und seit drei Stunden versuchte sie, sich zu überwinden, ihn auch zu öffnen.
Sie hatte die Handschrift wiedererkannt. Nach Kramers letzter Reise nach Kanada war eine Flut von Briefen, von neuen Kontakten, Freunden und Bekannten eingegangen. Im Laufe der Monate verringerte sich dieser Strom, und übrig blieb nur eine hartnäckige Briefschreiberin – eine Frau. In den letzten zwei Jahren waren diese Briefe mit einer verdächtigen Regelmäßigkeit eingetroffen, und bei einer Gelegenheit hatte sie immerhin so viel Mut aufgebracht,
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