Die Plastikfresser
gigantischer, wahnsinnig gewordener Kinderreifen und zerriß Fußgänger wie Puppen. Schließlich durchbrach es die Mauer eines Feinkostgeschäftes und kam in einem Regen von Konservenbüchsen und splitterndem Glas zum Stehen.
* * *
Im U-Bahn-Kontrollraum Coburg Street war Notstandsalarm gegeben worden. In dem großen, trommelförmigen Raum hatten sich die leitenden Beamten versammelt und studierten beunruhigt die Wandkarte des unterirdischen Tunnelsystems. Vor den Schaltkonsolen saßen die Kontrolleure und versuchten vergeblich, die Züge unter Kontrolle zu halten, die unterwegs und auf den Streckenplänen an der Wand als rote Lichter dargestellt waren. Es war offensichtlich, daß der Zusammenbruch des U-Bahnverkehrs in dem gesamten hundert Kilometer langen Tunnelsystem sich mit ungeheurer Geschwindigkeit eskalierte.
Auf einem Teil der Strecken waren die Züge zum Halten gebracht worden. Die entsetzten Fahrgäste bahnten sich hordenweise ihren Weg durch muffige Tunnels zu den Lichtern und der Geborgenheit der nächstgelegenen Bahnhöfe.
Immer wieder erfolgten kleinere Explosionen, Feuer brachen aus, und Millionen von Draht- und Kabelführungen fielen aus. Im gleichen Maße, wie die Auflösung von Plastik sich ausbreitete und beschleunigte, löste sich auch die ausgeklügelte Ordnung des Systems auf, wurde zum Chaos. Schließlich gab der Technische Generaldirektor in der Coburg Street den einzigen Befehl, der in dieser Situation noch möglich war:
Der U-Bahnverkehr wird stillgelegt, die Bahnhöfe geschlossen.
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Auf der Oberfläche erfüllte der Geruch von verfaulendem Plastikmaterial die frostige Dezemberluft. Es war ein ekelerregender, feuchter Verwesungsgeruch, beinahe wie der Gestank von Aas. Er durchdrang Straßen und Häuser, Keller und Fabriken.
Die Verkehrsampeln fielen aus und erzeugten unentwirrbare Verkehrsstauungen. Im Fernsprechhauptamt brach das Telefonnetz zusammen, als in der automatischen Selbstwählschaltzentrale die Isolationen verrotteten.
Der Plastikverfall griff auf das Funkhaus über. Nach dem Ersten Programm herrschte auch im Vierten Programm Funkstille. Notaggregate, die ersatzweise eingesetzt wurden, versagten gleichermaßen nach kurzer Zeit.
In der Wardour Street in Soho brach eine Gashauptleitung, deren Druckregler aus Polypropylendichtungen bestand, in Flammen aus.
In einer Gravuranstalt in der Greek Street weichte ein Stickstoffbehälter aus Polythen auf, beulte sich aus und platzte. Die Säure floß aus und sickerte durch die Decke in ein darunterliegendes Großraumbüro. Hilfeschreiend rannten die jungen Sekretärinnen durch das Gebäude – mit Verätzungen im Gesicht und an den Händen.
Wasserrohre aus Plastik weichten auf, hingen durch, blähten sich ballonartig und platzten; Läden, Wohnungen und Restaurants wurden überschwemmt.
Langsam, aber unerbittlich mehrten sich die Auflösungserscheinungen, in unaufhaltsamer Folge jagten sich die Zusammenbrüche, schwollen explosionsartig an. Nach achtundvierzig Stunden war der Stadtkern von London ein frostiges Chaos ohne Licht, Heizung und Verkehr.
* * *
Im Beratungsbüro Kramer warf Buchan wütend den Telefonhörer auf die Gabel: »Kein Mensch kann mir eine vernünftige Auskunft geben. Niemand will wissen, was passiert ist.«
»Wann sind sie denn runtergegangen?« fragte Wright.
Buchan blickte auf seine Uhr: »Es ist jetzt vier Stunden her.«
»Aber in der Direktion muß doch jemand wissen, wer mit den beiden in den Tunnel gegangen ist. Es war doch die ›Samson-Line‹, nicht wahr?«
»Ja«, antwortete Buchan. »Aber bei denen sind die Telefone völlig durcheinander. Als ich anrief, habe ich nur einen automatischen Anrufbeantworter erwischt, und erhielt die Auskunft, eine andere Nummer anzurufen.«
»Haben Sie es da versucht?«
»Natürlich. Aber dort hört man nur das Amtszeichen für Anschluß außer Betrieb.«
»Dann fahren wir am besten mit dem Wagen zur Direktion, damit wir wenigstens …«
»Einen Augenblick!« unterbrach Scanion. Er drehte am Lautstärkeknopf des Fernsehapparats; der Nachrichtensprecher sprach mit überangestrengter Gelassenheit:
»Sie sind also nun über die schwerwiegenden Ereignisse in der Innenstadt von London informiert. Die nächste Sendung wird gemeinschaftlich vom Zweiten Programm der BBC und von ITV ausgestrahlt. Wir empfehlen Ihnen dringend, Ihre Empfangsgeräte eingeschaltet zu lassen, insbesondere, wenn Sie im Stadtbezirk von London wohnen.«
Das
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