Die Poison Diaries
Liebe. Ich werde nicht zulassen, dass du scheiterst.«
Ich keuche auf. Oleanders Stimme ist mir zwar so vertraut wie meine eigenen Gedanken, doch diese Worte erklangen nicht innerhalb meines Geistes, sondern hinter mir. Ich drehe mich um. Vor mir steht der Prinz. Sein silbernes Haar schimmert im Fackellicht, aber das Smaragdgrün seiner Augen zerrt an meinem Herzen.
Nein, nicht an Weed denken
, ermahne ich mich.
Dafür ist es viel zu spät …
»Meine Macht nimmt täglich zu. Das habe ich dir zu verdanken, mein Herz. Du hast Großes geleistet; davon hätte ich kaum zu träumen gewagt.« Seine lederartigen, blattförmigen Schwingen sehen aus wie ein extravagantes Kostüm – und ich weiß nicht genau, ob er eine Erscheinung oder Wirklichkeit ist. »Ich kann nicht lange bleiben, aber diese Nacht wollte ich um alles in der Welt nicht verpassen. Du siehst aufgewühlt aus, meine Liebe – bist du überrascht, mich zu sehen?«
Ich kann kaum atmen. »Ja.«
Gut
, flüstert er und verschwindet mit einem Aufschimmern der Luft vor meinen Augen.
Denn ich liebe Überraschungen. Wie du schon bald sehen wirst.
◆◆◆
Signora Baglioni hat alles bestens arrangiert: Der Saal ist voller Pflanzen, meine Verbündeten. Und von der erhöhten Bühne aus kann ich alle sehen, die anwesend sind.
Für mich sind die Verräter leicht auszumachen. Sie sind als Giftpflanzen verkleidet – Fingerhut, Rhododendron, Narzisse, Eisenhut – und wenn sie an den eingetopften Bäumen vorbeigehen, die den Eingang zum
Salone
flankieren, zittern die Blätter vor Schreck.
Es wird viel getrunken und getanzt. Doch jetzt hat man die Stühle so aufgestellt, dass sie in Richtung der Bühne weisen. Der Sonnenblumenkönig wählt einen Sitz in einer hinteren Reihe. Er taumelt vor übermäßigem Champagner-Genuss. In jedem Arm hat er eine üppige Schönheit.
»Beginnen Sie mit Ihrer erstaunlichen Vorstellung, Signor
Erbaccia
«, ruft er laut. »Denn mein Essen wartet auf mich, und auch der Wein. Und danach – mein Bett!«
»Wie Eure Majestät befehlen«, sage ich mit einer Verbeugung. Mit wirbelndem Umhang vollbringe ich ein Wunder nach dem nächsten. Ich lasse Ranken wachsen und sich in der Luft zu Formen und Mustern biegen. Büschel von Schleierkraut und Lavendel erblühen auf mein Kommando hin.
Die Menge stößt bewundernde Rufe aus und applaudiert bei jeder neuen Attraktion. Sie halten es für einen Trick, aber einen guten. Sie haben ja keine Ahnung von dem Mirakel, das sich vor ihren Augen vollzieht.
Wie früher bei den Gauklern kommt die Nummer mit der Rose ganz zum Schluss. Ich zeige etwa ein Dutzend fest geschlossene Knospen an einem frisch geschnittenen Zweig und präsentiere sie einem Zuschauer, der in der Nähe der Bühne sitzt, einem kahlköpfigen Mann, der in ein Kostüm aus Kiefernzapfen gewandet ist.
Er betrachtet jede einzelne Knospe durch sein Monokel. »Sie sind echt, vollkommen echt«, verkündet er der Menge.
Ich stelle den Rosenzweig in eine Vase. Dann verneige ich mich tief und spreche meine Bitte aus. Langsam, eine nach der anderen, öffnen sich die Blüten der Rose.
Der Applaus ist lang und herzlich. Ich nehme die voll erblühte Rose aus der Vase und lege sie in meinen Arm. Aus Gewohnheit – oder ist auch Hoffnung im Spiel? – blicke ich mich suchend in der Menge um, ob ich ein Mädchen entdecke, das Jessamine ähnlich sieht.
Wie so oft zuvor fällt mein Auge auf ein hübsches, von blonden Locken umrahmtes Gesicht nach dem andern. Von jedem gleitet mein Blick enttäuscht ab.
Bis …
Da …
Da ist sie.
Jessamine. Eisblaue Augen starren mich aus einer purpurroten Maske an.
Ihr Haar ist so schwarz wie der Mantel eines Totengräbers. Ihre zarten, leicht geröteten Wangen stechen scharf in ihrem Gesicht hervor, das so bleich ist wie Marmor. Die blutroten Lippen ihres Mundes sind starr vor Schock.
Ohne die Maske hätte ich sie vermutlich nicht erkannt. Aber sie umrahmt ihre Augen, so dass ich sie losgelöst von dem Rest ihres Körpers sehe. Es sind Jessamines Augen. Ich würde sie überall wiedererkennen.
Und diese Augen starren mich an. Ein Starren voller Entsetzen.
Die Finger des Königs spielen mit der nackten Haut auf ihrem Hals. Ich selbst habe diese Stelle schon geküsst, jene Höhlung unterhalb der Kehle.
Ihr roter Mund formt ein Wort:
Weed
…
◆◆◆
Weed … lieber Gott … es ist Weed.
Eben verbeugt er sich und lässt seinen Blick durch den Saal schweifen. Einen Augenblick lang scheint er
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