Die Priesterin von Avalon
und wir sie sehen konnten. Ich begann mich indes zu fragen, ob die Sinne, die Ganeda mir genommen hatte, wieder zurückkehrten, denn mir war, als spürte ich Britannien hinter uns, auch wenn uns Nebel umgab, und mit der Zeit nahm ich von vorn eine neue Energie wahr. Am dritten Tag, als sich der Nebel über dem Meer in der Morgensonne auflöste, lagen vor uns am Horizont zahlreiche Inseln wie Tupfer in den verzweigten Armen des Rhenus-Deltas, die den Weg nach Germania Inferior bewachten.
Unser Ziel war Ganueta, wo die Scaldis in das Delta des Rhenus mündete, ein wichtiger Umschlagplatz für die Fracht, die vom Kontinent nach Britannien verschifft wurde. Während Konstantius sich um den Weitertransport rhenusaufwärts kümmerte, konnte ich mit dem treuen Philipp an meiner Seite über den Marktplatz schlendern, der an den Hafen angrenzte. Wie in allen Grenzgebieten waren auch hier unterschiedliche Kulturen vertreten. Die Kehllaute der germanischen Sprachen vermischten sich mit wohlklingendem Latein. Seit der vernichtenden Niederlage, die Varus mit seinen Legionen gegen Arminius hatte einstecken müssen, war der Rhenus die Grenze zwischen dem freien Germanien und dem römischen Imperium, die jedoch seit mehr als einem Jahrhundert eine friedliche Grenze war. Die Menschen, die ihre Felle, ihr Vieh und ihren Käse über den Fluss zum Markt trugen, unterschieden sich nicht sehr von den Stämmen auf römischer Seite.
Ich schaute mir gerade an einem Marktstand Schnitzereien an, als mich jemand beim Namen rief. Ich drehte mich um und erkannte Viducius, in eine Toga gehüllt und mit einem Korb voller Äpfel unter dem Arm.
»Gehst du zu einem Fest?«, fragte ich und deutete auf das Obst.
»Nein, obwohl ich unterwegs zu einer edlen Dame bin - ich gehe zum Tempel der Nehalennia, um meinen Dank für die sichere Überfahrt abzustatten. Ich würde mich freuen, wenn du mitkämst.«
»Gern. Philipp, du musst Konstantius suchen und ihm sagen, wohin ich gegangen bin. Viducius wird mich nach Hause begleiten.«
Philipp beäugte den Händler ein wenig misstrauisch, aber immerhin hatten wir gerade eine Seereise in seiner Gesellschaft hinter uns gebracht. Als der Junge sich aufmachte, bot Viducius mir seinen Arm.
Der Tempel stand auf einer leichten Anhöhe am nördlichen Ende einer Insel. Ein quadratischer Säulengang umgab den Schrein in der Mitte, dessen Turm knapp darüber hinausragte. Zwischen den Votivaltären am Wegesrand hatten Verkäufer ihre Stände aufgestellt, an denen sie Kupfermünzen mit Bildern von Hunden oder der Gestalt der Göttin anboten, Äpfel als Opfergabe, Wein, gebackenes Brot und Würste für hungrige Gläubige. Das Obst, das Viducius mitgebracht hatte, war weitaus besser als alles, was hier verkauft wurde. Verächtlich schritten wir rasch vorüber und traten durch den Eingang in den gepflasterten Innenhof.
Ich hatte schon schönere Tempel gesehen, doch dieser hatte mit seinem roten Ziegeldach und den hellen Wänden etwas angenehm Zwangloses. Hier standen weitere Altäre, und Viducius blieb stehen, um mir den zu zeigen, den sein Vater Placidus vor langer Zeit gestiftet hatte. Dann überreichte er der Priesterin einen Golddenar und zog das Ende seiner Toga über den Kopf, als wir das Heiligtum betraten, das von Bogenfenstern hoch oben im Turm beleuchtet war. Vor einer Säulenplatte in der Mitte des Raumes erhob sich das Bildnis der Göttin, aus warmem rötlichem Stein gemeißelt. Sie hielt ein Schiff in den Händen, aber zu ihren Füßen war ein Korb mit Äpfeln dargestellt, daneben ein Hund, der Eldri so sehr ähnelte, dass mir die Tränen kamen.
Als ich wieder klar sehen konnte, stellte der Händler seine Äpfel vor der Säulenplatte nieder. Das Bildnis der Göttin schaute heiter und gelassen an ihm vorbei, die Haare waren hinten zu einem einfachen Knoten gebunden, die Gewänder fielen in anmutigen Falten herab. Als ich diesem gemeißelten Blick begegnete, überkam mich ein Schauder des Erkennens. Ich schlug meinen Schleier zurück und entblößte den Halbmond auf meiner Stirn.
Nehalennia… Elen… Elen von den Wegen… Herrin, in einem fremden Land finde ich dich! Behüte und beschütze mich auf dem Weg, den ich jetzt gehen muss…
Einen Augenblick lang beherrschte meine innere Stille alle Geräusche, die von außen zu mir drangen. In dieser Lautlosigkeit vernahm ich keine Stimme, sondern Wasser, das in einen Teich plätscherte. Es klang wie die Blutquelle auf Avalon, und mir kam der Gedanke, dass alle
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