Die Priesterin von Avalon
tun, und Atticus hatte auf einmal einen willigen Schüler, der eifrig nach den Schätzen griechischer Philosophie und Literatur grub. Damals studierten sie gerade die Werke von Lukian. Während ich die Mädchen anwies, die das Mosaik des Dionysos mit den Delphinen auf dem Boden des Speisezimmers reinigten, hörte ich leise Stimmen aus dem Arbeitszimmer. Konstantin übersetzte mit in allen Höhenlagen schwankender Stimme die Stelle, die sein Lehrer ihm genannt hatte.
Tags darauf begann der Monat, den die Römer nach Maia, der Mutter Merkurs, benannt hatten. In Britannien, dachte ich lächelnd, würde man sich auf das Beltanefest vorbereiten. Wenn ich die Anzeichen richtig deutete, feierte man hier auch. Nachdem es zunächst kühl und regnerisch gewesen war, wurde es plötzlich warm, und auf den Hängen blühten Wildblumen wie Sterne am Himmel.
Tief atmete ich die herrliche Luft ein, hielt aber inne, als die Mägde eine Tür öffneten und Kons Stimme plötzlich lauter wurde.
»Sie sahen, dass… das Ding, das sowohl die Ängstlichen als auch die Hoffnungsvollen brauchten, und, äh… wollten am liebsten von der Zukunft wissen. Das war der Grund, warum Delphi und Delos und Clarus und Didyma vor Jahrhunderten so reich und berühmt geworden sind…«
Ich lauschte, neugierig geworden, was sie lasen und wie mein Sohn es aufnehmen würde.
»Das verstehe ich nicht«, sagte Konstantin. »Lukian sagt, dieser Alexandros aus Abunoteichos sei ein Betrüger, ein Schwindler gewesen, aber es hört sich so an, als hielte er Delphi und die anderen Orakel für ebenso schlecht.«
»Du musst die Aussage im Kontext sehen«, sagte Atticus begütigend. »Lukian war zwar einer der führenden Sophisten des vergangenen Jahrhunderts und gründet seine Schlussfolgerungen natürlich lieber auf Vernunft denn auf Aberglauben, aber was in diesem Aufsatz seinen Zorn erregt hat, ist die Tatsache, dass Alexandros es darauf anlegte, die Menschen hereinzulegen unter dem Vorwand, die Schlange im Ei zu entdecken und durch eine andere, große zu ersetzen, deren Kopf hinter einer Maske verborgen ist. Dann erzählte er allen, es sei der wiedergeborene Asklepios, und behauptete, sie liefere ihm die Orakel, die er selbst aufgeschrieben hatte. Aber es stimmt, dass er Kunden zu den großen Schreinen schickte, um sie davon abzuhalten, ihn zu denunzieren.«
Ich erinnerte mich daran, etwas über die Geschichte gehört zu haben. Alexandros war zu seiner Zeit ziemlich berühmt, und Lukian hatte nicht nur über ihn geschrieben, sondern auch aktiv versucht, ihn bloßzustellen.
»Willst du damit sagen, dass die Orakel alle nicht wahr sind?«, fragte Konstantin misstrauisch.
»Nein, nein - ich stehe auf dem Standpunkt, dass du kritisch denken lernen musst, damit du selbst beurteilen kannst, ob etwas vernünftig ist, und nicht blind glaubst, was man dir erzählt«, antwortete Atticus.
Ich nickte: Das war mehr oder weniger das, was man uns in Avalon gelehrt hatte. Anzunehmen, Orakel könne man nicht fälschen, war ebenso dumm wie blinder Glaube.
»Das ergibt doch keinen Sinn«, begehrte Konstantin auf. »Wer weise ist, sollte entscheiden, was stimmt, und damit basta.«
»Sollte es nicht jedem Menschen selbst überlassen sein, zu entscheiden?«, fragte Atticus vernünftig. »Denken lernen sollte zur Ausbildung eines jeden Menschen gehören, so wie jeder lernen muss, ein Pferd zu pflegen oder mit Zahlen umzugehen.«
»Bei einfachen Dingen ja«, antwortete Konstantin. »Aber wenn das Pferd krank wird, ruft man auch einen Heiler, und für kompliziertere Berechnungen stellt man einen Mathematiker ein. Dann sollte es doch im Bereich des Heiligen, der so viel wichtiger ist, genauso sein.«
»Sehr gut, Konstantin, aber überlege mal - das Fleisch ist gegenständlich, und seine Krankheiten können durch die Sinne wahrgenommen werden. Zahlen sind Symbole für Gegenstände, die richtig gezählt werden können, und sie sind immer und überall dieselben. Doch jeder Mensch erlebt die Welt anders. Seine Geburt steht unter unterschiedlichen Sternen, und er hat eine einzigartige Geschichte… Ist es so unvernünftig, ihm seine eigene Wahrnehmung der Götter zu lassen? Unsere Welt ist so reichhaltig und mannigfach - da brauchen wir doch unzählige Möglichkeiten, sie zu verstehen. So gibt es die Sophisten, die alles in Zweifel ziehen, und die Anhänger von Plato, die glauben, dass nur Archetypen wirklich sind, die pythagoräischen Mystiker und die aristotelischen Logiker. Jede
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