Die Prinzen von Queens - Roman
Alfredo hört ihn nicht. Er packt ihn an der Hand und zieht ihn durch die Menge, auf die Treppe zu, wo es ruhiger ist, und nachdem Tariq zunächst Widerstand geleistet hat, die Füße schleifen ließ, zieht Alfredo plötzlich nicht mehr seinen Bruder, sondern wird von ihm geschubst. Tariq senkt den Kopf und presst Alfredo gegen die Wand.
Er packt ihn an der Taille. Er drückt fest zu, hinterlässt violette Flecken auf der Haut. Alfredo will ihm sagen, hör auf, du tust mir weh, aber er bezweifelt, ob er überhaupt gehört wird. Tariq wimmert. Sein Kopf schnellt nach vorn und knallt Alfredo gegen das Kinn – vielleicht ein Versehen, aber Alfredos Zähne krachen so hart zusammen, dass ihm fast die Ohren platzen. Tariq quetscht Alfredos Arme, bohrt ihm in den Oberkörper, und Alfredo kommt der Gedanke, dass die herumirrenden Hände seines Bruders möglicherweise nach einer Öffnung suchen – so etwas wie einer Blinddarmnarbe –, die er aufreißen kann, um hineinzukriechen. Er stellt Besitzansprüche, denkt Alfredo. Er sucht ein Zuhause. Er will in einem Körper wohnen, der nie im Gefängnis war, nie aufgeschlitzt wurde, nie eine Freundin oder einen Hund verloren hat, einem Körper, für den zur Trauer kein Anlass besteht.
»Du hast gewonnen«, sagt Tariq. Er lässt die Arme sinken. »Okay? Du hast gewonnen. Ich geb auf. Ich bin fertig. Verstehst du?«
Nein, Alfredo versteht nicht. Er versucht, seinen Bruder wegzudrücken, aber er kann die Arme nicht strecken. Tariq ist zu nah an ihm dran. Er riecht nach Barbasol und Irish Spring. Er verhakt das Kinn über Alfredos Schulter, der kahle Schädel an seiner Wange ist glatt und kühl. Und da ist sie: die Vertiefung im Nacken. Sie öffnet sich direkt vor Alfredo, jene sanfte Einbuchtung, die er immer hatte füllen wollen. Vielleicht – wer weiß? – hat Alfredo ja selbst eine. Wie kann er mit Sicherheit sagen, dass er keine hat? Er hätte sie im Nacken, wo er sie nicht sehen kann, und es war ihm auch nie in den Sinn gekommen, jemand anderen nachschauen zu lassen. Möglicherweise trägt er da etwas immer bei sich, das Isabel zwar aufgefallen war, was sie aber nie erwähnt hat.
»Die Polizei ist gleich da«, flüstert Alfredo. Er weiß nicht, ob er das Richtige tut, aber er kann nicht anders. Er schließt seinen Bruder in die Arme. »Geh nach Hause, okay? Geh hoch in den Laden und vorne raus. Dann passiert dir nicht’s, verstehst du? Aber du musst jetzt gehen. Du musst hier raus.«
Tariq rinnt Blut aus der Nase. Es ist knallrot, beeindruckend rot. Entweder hat er sich etwas von dem X durchgezogen, oder es ist ein stressbedingtes Nasenbluten, wie er es als Kind immer hatte. Alfredo will das Blut mit dem Daumen wegwischen, verschmiert es Tariq jedoch nur auf der Oberlippe.
»Halt dir die Nase zu«, sagt Alfredo. »Leg den Kopf in den Nacken.« Er wischt seinen blutigen Daumen an Tariqs Shirt ab, bis ihm einfällt, dass es ja eigentlich seins ist. »Ach, Scheiße.«
»Was ist?«
»Leg den Kopf in den Nacken.«
»Was ist denn?«
»Alles okay. Leg den Kopf in den Nacken. Du blutest.«
»Nein«, sagt Tariq. »Das ist nicht mein Blut.« Er tritt einen Schritt zurück und streicht mit den Händen über den Schritt seiner Jeans, wo der Stoff verfärbt, beinahe rostig aussieht. »Du bist ein Blitzmerker, aber nein, das ist nicht mein Blut. Das ist Isabels.«
»Jose«, sagt Alfredo leise.
»Sie hat es mir dahin gespuckt. Es ist ihr Blut. Nicht meins. Absolut nicht.«
Alfredo packt Tariq mit beiden Händen am Shirt. Er will ihn wegschubsen, aber Tariq hält ihn an der Wand fest.
»Es ist dunkel hier unten«, sagt er. »Und es ist dir trotzdem aufgefallen. Alle Achtung, Dito.«
»Lebt sie?« Die erbärmlichste Frage, die er jemals gestellt hat. Er beißt sich auf die Innenseite seiner Backen, aber es hilft nichts. Er ist bereits in Tränen ausgebrochen. Er hat Angst zu atmen, hat Angst, dass die Welt einfach mitten durchbricht. »Jose? Lebt sie?«
»Sie ist zu Hause«, sagt er. »Im Bett. Mit Mama, ob du’s glaubst oder nicht.«
»Und leben sie?«
»Du glaubst, ich würde meine eigene Mutter umbringen?«, sagt er. Als Alfredo nicht antwortet, fangen Tariqs Schultern an zu zucken. Er kichert los. Seine Augen strahlen, seine Stimmung hebt sich zusehends. Alfredo begreift, dass diese Veränderung nichts mit den Pillen zu tun hat, die sein Bruder geschluckt hat. Es ist die unbändige Wut, die in seiner Brust kocht. »Ich mach dir keinen Vorwurf«, sagt Tariq.
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