Die Prophetin vom Rhein
nicht rasten, rannte weiter, so schnell, dass ihre Füße
den Boden kaum noch berührten. Da kam unversehens eine kleine Lichtung in Sicht …
Theresa fuhr hoch, mit klopfendem Herzen.
Da war ein hohes, durchdringendes Wimmern dicht neben ihr - die Mutter, die sich krümmte und wand, als wäre ihr Beelzebub höchstpersönlich in den Leib gekrochen.
»Was hast du?«, rief das Mädchen angstvoll und sah im trüben Schein der Ölfunzel das Erbrochene, mit dem Ada ihr Mieder beschmutzt hatte. Etwas Grünliches war darin zu erkennen, beinahe wie die jungen Spitzen eines Nadelbaumes, die sie wieder ausgespien haben musste. Der Geruch war so widerlich, dass Theresa schnell zurückfuhr.
Ihre Gedanken überschlugen sich. Wie hatte die Mutter nur in diesen jämmerlichen Zustand geraten können? Gegessen hatte die Schwangere nichts, jedenfalls nicht in ihrer Gegenwart, aber getrunken. Etwas krampfte ihr Herz zusammen. Der Tonbecher war leer getrunken und die Kanne zerbrochen, aber der Fleck, der den Boden dunkel gefärbt hatte, stank abscheulich.
»Kommt das vielleicht von diesem Tee, den du dir heimlich zusammengebraut hast?«
Ada verdrehte die Augen, bis nur noch das Weißliche zu sehen war, und gab ein undefinierbares Gurgeln von sich. Mit dem Rockzipfel wischte Theresa ihr die Mundwinkel sauber. Dann erst bemerkte sie, dass auch der Rock besudelt war. Zuerst dachte sie, die Mutter habe sich vor Schmerzen womöglich eingenässt, doch beim näheren Hinsehen entpuppte es sich als etwas anderes: Vorn entlang zog sich wie eine hässliche Borte eine breite rötliche Spur - Blut!
In Theresas Ohren war auf einmal ein seltsames Rauschen, das immer stärker anschwoll. Keine Schwangere durfte bluten. Sie war längst alt genug, um das zu wissen. Und für eine Geburt war es Monate zu früh. Was sollte sie
tun? Die Leidende hier allein zurücklassen oder Gero aufwecken, damit er zu den Schwestern laufen konnte?
Sie lief zu ihm, rüttelte ihn sanft. »Wach auf!«, sagte sie, als er halb die Lider öffnete. »Du musst jetzt ganz tapfer sein. Mama ist sehr krank. Wir brauchen Hilfe.«
»Was ist los?«, murmelte er schlaftrunken. »Bekommt sie das Kind?«
Er wusste besser Bescheid, als sie gedacht hatten! Wer konnte schon sagen, was der Kleine sonst noch alles mitbekommen hatte, das nicht für seine Ohren bestimmt gewesen war?
Nein, ihn schickte sie besser nicht zu den Nonnen!
»Steh auf, setz dich zu ihr und nimm ihre Hand! Das tut ihr bestimmt gut.« Theresa bemühte sich, ruhig zu sprechen, obwohl alles in ihr flatterte. »Und falls ihr wieder übel wird, dann stützt du sie, so gut es geht, und wischst ihr den Mund sauber. Hast du mich verstanden, Gero?«
Er nickte mit großen, erschrockenen Augen.
»Muss sie jetzt auch sterben so wie unser Vater im Morgenland?«, flüsterte er und hielt sich Schutz suchend an seiner Schwester fest. »Dann sind wir beide ja ganz allein!« Plötzlich sah er so hilflos und verschreckt aus wie damals, als er mit sechs Jahren vom Kirschbaum gefallen war und sich das Bein angebrochen hatte. Einen ganzen Sommer lang hatte er nur humpeln können, und noch heute merkte man manchmal die alte Verletzung, wenn er rennen wollte, und sein linkes Bein nicht ganz so mitmachte.
Rührung wallte in Theresa hoch, doch dazu war jetzt keine Zeit. »Red keinen Unsinn!«, entgegnete sie schnell und resolut, obwohl ihr bang zumute war. »Wir sind nicht umsonst in einem Kloster, wo sie sich mit Kranken gut auskennen. Du brauchst keine Angst zu haben. Ich bin gleich wieder zurück.«
Sie lief hinaus, verlor jedoch im Dunkeln zunächst die Orientierung. Zum Glück verzogen sich die Wolken, und das Mondlicht reichte aus, um sich schließlich zurechtzufinden. Hier waren sie zuvor entlanggegangen - der Kirchenrohbau, die Säulen des Kreuzgangs, sie erkannte alles wieder. Plötzlich fühlte sie sich sicherer. Dort drüben befand sich auch der Eingang zur Küche, aber natürlich war zu dieser späten Stunde weit und breit niemand mehr zu sehen.
Theresa blieb stehen, schaute sich um. Wo nur mochten die frommen Schwestern schlafen?
Ihr Blick glitt nach oben. Die mit Schweinsblasen gegen die letzte Winterkälte geschützten Fensteröffnungen im oberen Geschoss waren alle dunkel. Sie durfte nicht zaudern, so schlecht, wie es der Mutter offenbar ging. Sie bückte sich nach einem Stein, hob ihn auf und zielte. Die jahrelange Übung im Ballspiel mit Gero, der dafür allerdings lieber einen Bruder gehabt hätte, zeigte jetzt
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