Die Prophetin von Luxor
Notizbuch mitnehmen könnte! Sie sah ihr Sortiment an eigens für sie angefertigten Sandalen durch und wählte die stabilsten aus, dann überzeugte sie sich davon, daß sie einen Schurz, ein Hemd und einen Umhang dabeihatte, und legte sich zuletzt hin, um auf die Abenddämmerung zu warten.
Sie war so aufgeregt, daß sie kaum schlafen konnte und in regelmäßigen Abständen aufwachte. Schließlich sah sie lange Schatten und stand auf, um sich anzuziehen. Cheftu erwartete sie im Heck und in Begleitung seines jungen Apiru-Sklaven sowie zweier Rekkit. Sein bernsteingelber Blick tastete sie ab, dann lächelte er. »Du bist bereit, Herrin?« Sie lächelte und nickte, während Cheftu sie erneut in Augenschein nahm. »Dann gehen wir.«
Seti hatte das Schiff an einem alten Kai verankert, über den sie ohne Schwierigkeiten an Land gelangten. Chloe konnte die Überreste einer breiten, von Sphingen gesäumten Prachtstraße erkennen, die jedoch von über tausend Jahren Gebrauch gezeichnet war. Vor ihnen erhoben sich die Pyramiden, die mit ihren Spitzen den Nachthimmel durchstießen. An manchen Stellen war die Kalksteinverkleidung abgebröckelt. Wie Cheftu erklärte, hatten die Pyramiden früher goldene Spitzen gehabt, die von den Hyksos geraubt worden waren.
Es tat gut, sich wieder bewegen zu können, dachte Chloe. Ihre Muskeln begannen bereits zu protestieren, doch sie genoß den Schmerz. Endlich lebte sie ihr Leben wieder, statt es nur zu zeichnen! Chloe paßte ihre Schritte denen Cheftus an, während die Sklaven hinter ihnen gingen. Die Sphinx war fast vollkommen eingesunken, nur die immer noch bemalten Augen und die Stirne ragten aus dem Sand. Cheftu blieb eigenartig still, bis sie vor der Großen Pyramide angekommen waren, die schon im alten Ägypten so hieß.
Karnak war vielleicht feiner gearbeitet und kostbarer ausgestattet, doch diese Pyramide war ihr an Grandeur und Erhabenheit durchaus ebenbürtig. Chloe legte den Kopf in den Nacken, um bis zur Spitze aufzusehen. Die Steine, die sie sich immer als Treppenstufen vorgestellt hatte, waren in Wahrheit größer als sie. Schweigend blieb Chloe stehen und blickte mit großen Augen nach oben. Erst nach mehreren Minuten merkte sie, daß Cheftu nicht mehr dieses Meisterwerk antiker Baukunst ansah, sondern sie.
»Faszinierend, nicht wahr?« meinte er mit einer Geste zu dem Bauwerk hin. »Der Legende nach soll sie innerhalb von zwanzig Jahren erbaut worden sein, obwohl ich nicht weiß wie. Möchtest du hinaufsteigen?« Chloe deutete auf die viel zu hohen Steinquader, und Cheftu lachte. »Nicht hier. Der Kalkstein ist nicht zu besteigen, eine weitere von Cheops’ Vorsichtsmaßnahmen. Auf der anderen Seite gibt es eine Treppe. Irgendein uralter nophitischer Pharao ist gern hier hochgestiegen, um nachzudenken, darum hat er sich Stufen in den Fels hauen lassen. Es ist trotzdem ein ziemlich anstrengender Aufstieg.« Sie bedeutete ihm, voranzugehen, und sie begannen, die Basis der Pyramide abzuschreiten. Chloe war fassungslos über die absolute Einsamkeit, in der sie sich befanden. Nirgendwo war ein Dorf, ein Feld oder auch nur ein antiker Souvenirstand zu sehen. Sie waren allein.
Die Sklaven folgten in gebührendem Abstand, beladen mit Fackeln und einem großen Korb, in dem, wie Chloe hoffte, ihr Abendessen war. Nach einem fünfzehnminütigen Spaziergang waren sie auf der anderen Seite der Pyramide angekommen. Der Mond war aufgegangen, und am Himmel standen schon Sterne, die ihr Licht über die mondähnliche Oberfläche des verwehenden Sandes streuten.
Cheftu hatte die Stufen entdeckt und führte sie hin.
»Geh voran, aber sei vorsichtig. Diese Stufen sind Hunderte von Jahren alt und rutschig. Ich fange dich auf, falls du stolperst, du brauchst also keine Angst zu haben.« Und wer wird dich auffangen? dachte Chloe, doch sie machte sich an den Aufstieg. Obwohl die Stufen normal bemessen waren, waren sie in vielen Jahren und von unzähligen Füßen so weit abgetreten worden, daß jede Stufe in der Mitte durchsackte. Nach etwa einem Drittel des Weges begannen Chloes Lungen zu brennen. Cheftu merkte es und ordnete eine Pause an.
Nebeneinander setzten sich die Pyramidenbesteiger mit dem Rücken gegen die großen Felsquader und blickten über die endlose Wüste, die unzähligen Kilometer voll wogendem, silbernem Sand. Als Chloe wieder zu Atem gekommen war, setzte sie ihren Weg fort, dicht gefolgt von Cheftu. Sie bekam Blasen in den Sandalen und sehnte sich nach einem Paar
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