Die Prophetin von Luxor
anständiger Wanderstiefel, doch als sie in den grenzenlosen, mit Sternen übersäten Nachthimmel aufsah, vergaß sie ihre Füße, ihre rätselhafte Zeitreise - einfach alles außer diesem erhabenen Anblick.
Chloe war schweißgebadet, als sie schließlich den zitternden Fuß auf die Spitze der Pyramide stellte.
Die Spitze der Welt!
Der böige Wind zerrte an ihrem Kopfschmuck und kühlte den feuchten Film auf ihrem Gesicht. Als die Hyksos die goldüberzogene Pyramidenspitze abgetragen hatten, hatten sie eine ebene Fläche hinterlassen, die etwa so groß war wie Chloes Apartment in Dallas. Sie trat an die Ostkante, von der aus man auf den Nil sah. Der Fluß zog sich dahin, so weit das Auge reichte, ein Band aus schwarz-silbernem Licht, das Ober- und Unterägypten zu einer der größten Kulturen verwob, die die Welt je kennen sollte.
Abgesehen von den nadelstichgroßen Fackeln auf ihrem Boot am Ufer war nirgendwo ein Licht zu sehen. Das Land wirkte gottverlassen. Sie waren vollkommen allein unter diesem unglaublich weiten, silberdurchwirkten Himmel. Der Wind trug Cheftus Stimme und sein Angebot von Essen und Wärme zu ihr her.
Die Sklaven hatten einen Windschutz aufgestellt und Wein heiß gemacht. Chloe setzte sich in den Windschatten, direkt neben Cheftu, genoß die stille Luft und sah in den Himmel auf. Sie erkannte nur wenige Sternbilder wieder und konnte Cheftu auch nicht fragen, wie sie hießen. Er reichte ihr eine Schale mit warmem Wein und die antike Form eines Pitabrot-Sandwiches. Hungrig biß sie hinein, zermalmte den Ziegenkäse und die Gurken und ließ sich entspannt auf den uralten Stein zurücksinken.
Durch den Windschutz waren sie auch vor den Blicken der Sklaven geschützt, und ihr wurde heiß angesichts der intimen Situation. Chloe nahm mit übernatürlicher Intensität wahr, wie tief Cheftu neben ihr atmete, wie seine Finger sich beim Reden bewegten, wie er in den Himmel deutete und Bilder in die Luft zeichnete, um seine Geschichten auszuschmücken. Silbernes Licht übergoß seinen Leib, vergoldete den festen, muskulösen
Körper, und der würzige, warme Duft seiner Haut benebelte ihre Sinne. Sie war im Mondschein-Delirium, ganz eindeutig. Außerdem hatte sie keine Haare! Welcher Mann interessierte sich schon für eine Kahlköpfige?
Dennoch bekam sie in diesem Augenblick eine Ahnung davon, was die beiden miteinander geteilt haben mochten . Cheftu und RaEm. Wobei nicht auszudenken war, für welchen Kheft er sie halten würde, wenn sie ihm die Wahrheit sagen würde. Hätte sie die Wahrheit überhaupt aussprechen können?
Er deutete in den Himmel und legte seinen von einem Tuch bedeckten Kopf neben ihren. »Das da ist der Stern RaSheras.« Er zeigte auf die Venus. »Und dort ist das Sternbild von Apis’ Schenkel.« Chloe starrte angestrengt und ausgiebig nach oben, vermochte aber nicht zu sagen, wie die Ägypter in den zahllosen Sternen einen Stierschenkel erkennen wollten. Natürlich war das nicht abwegiger, als sich Cassiopeia in ihrem Stuhl am Himmel vorzustellen, doch damit hatte Chloe seit jeher Probleme gehabt.
»Es ist doch erstaunlich, daß stets unsere Götter am Himmel stehen, gleichgültig wie weit wir uns vom roten und schwarzen Land Kemt entfernen«, meinte Cheftu mit vom Wind heiserer Stimme. »Auf dem Rückweg aus Punt erschien uns die Reise bisweilen so lang, und die Menschen waren uns so fremd, daß wir Trost darin fanden, in den Himmel aufzusehen und zu wissen, daß die Ma’at erhalten blieb.«
Sie sah ihn überrascht an. Cheftu hatte diese sagenumwobene Reise nach Punt mitgemacht? Jene Reise, die Hatschepsut für die allergrößte Leistung ihrer Regentschaft hielt? So gern hätte sie ihn mehr gefragt.
»Du hast nicht gewußt, daß ich dort war, RaEm?«
Sie schüttelte den Kopf.
Er lächelte verbittert. »Eigentlich dürfte mich das nicht überraschen«, sagte er zu sich selbst. » Asst , also gut. In Assyrien gibt es Stufentürme. Sie gleichen den ersten Pyramiden, die wir je gebaut haben. Die Assyrer bringen ihren Göttern Tieropfer und lenken ihre Aufmerksamkeit auf sich, indem sie sich Wunden zufügen. Sie haben sehr blutrünstige Götter. Dann, im Fernen Osten, sind die Menschen klein und dunkelhäutig. Sie stechen einen mit Nadeln, um Schmerzen zu lindern.« Er lachte leise.
»Es funktioniert, aber ich kann mir nicht vorstellen, daß ein Ägypter von dieser Behandlungsmethode begeistert wäre.
Auf den Inseln des Großen Grüns springen junge Männer und Frauen
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