Die Prophetin
langsam den breiten Boulevard entlang und betrachteten die riesigen Hotels – das MGM Grand, das Luxor, Excalibur, Atlantis… Wie unwirkliche Visionen einer fremden Welt ragten die Bauten aus der Wüste unter Nevadas gleißender Sonne in den Himmel.
Zeke durchschaute die Absicht des Priesters und der Frau. Die beiden Flüchtlinge suchten Schutz in der Menge. Zeke wußte, daß er sie hier in einem der Mammutpaläste finden würde. »Nicht zu fassen!« rief Raphael. »Schlösser! Sphinxe! Piratenschiffe! Wir sind auf einem fremden Stern gelandet.« Seine Jagdlust erwachte. »Wo fangen wir an zu suchen?«
»Das ist für Sie, Vater«, sagte die Frau an der Rezeption und reichte Garibaldi die Internet-Zugangskarte.
»Anwendername und Paßwort sind nur Ihnen bekannt. Sie können sich jederzeit in das Net einloggen.«
Zu den neuesten Dienstleistungen des Hotels gehörte die Internet-Zugangsberechtigung über das hoteleige-ne System. Der Gast zahlte nur eine geringe Gebühr für die Online-Verbindung. Geschäftsreisende nutzten den Service für Konferenzschaltungen und verwandelten ihre Suiten in virtuelle Büros. Eltern mit Kindern wußten das Angebot ebenfalls zu schätzen; sie konnten die Kinder mit gutem Gewissen an den Monitoren im Zimmer zurücklassen, während sie selbst an den Spieltischen ihr Glück versuchten.
Garibaldi durchquerte noch einmal die Hotelhalle und ging durch das Sonnenlicht, das sich wie ein goldener Wasserfall durch die riesigen Glastüren ergoß. An einem Kiosk, der wie ein minoischer Sarkophag aussah, kaufte er eine Zeitung. Er drehte dem Hoteleingang den Rücken zu, als ein schwarzer Pontiac langsam auf der Auffahrt vorbeirollte.
Zeke blickte auf die Uhr und sagte zu Raphael: »Hier fangen wir an. Du gehst ins MGM Grand, und ich in Caesar’s Palace.«
West Los Angeles, Kalifornien
Als Julius das Institut durch den Hinterausgang verließ, ging er nicht geradewegs zu seinem Wagen. Er überquerte die Straße, wo ein weißer Honda am Bordstein stand, klopfte an das Wagenfenster und nickte dem überraschten Fahrer freundlich zu. »Ich werde bei Johnny’s etwas essen«, sagte er, als der Mann das Fenster geöffnet hatte. »Wissen Sie, wo das ist? Fahren Sie die Pico Street entlang und biegen Sie rechts in den Sepulveda Boulevard in Richtung Culver City. Danach werde ich im Santa Monica-Einkaufszentrum Weihnachtseinkäufe machen. Wenn ich das erledigt habe, besuche ich meinen Rabbi in der Synagoge in San Vincente. Ich werde langsam fahren, damit Sie mich nicht aus den Augen verlieren.«
Julius wußte nicht, wer dieser Mann war oder für wen er arbeitete, ob für die Polizei oder einen privaten Auftraggeber. Vielleicht war es auch ein Reporter. Aber der Mann folgte ihm schon seit zwei Tagen. Julius ärgerte sich über die ständige Überwachung und hatte beschlossen, dem Mann zu zeigen, daß er sich seiner Anwesenheit sehr wohl bewußt war. Als er etwas später in seinem Wagen den Parkplatz verließ, folgte ihm der weiße Honda. Der Mann wartete geduldig, als Julius eine Kleinigkeit aß, blieb ihm auch beim Ein-kaufsbummel auf den Fersen, während Julius Geschenke für seine Ex-Frau und die beiden Kinder und auch ein Geschenk für Catherine kaufte. Als sie am späten Nachmittag die Synagoge erreicht hatten, winkte Julius dem Mann zu und fragte sich, wann er Zeit zum Essen fand oder auch nur, um auf die Toilette zu gehen. Rabbi Goldmann war schon so lange in der Synagoge, daß auch die ältesten Mitglieder der Gemeinde sich an keinen anderen Rabbi erinnern konnten. Niemand wußte, wie alt er war, aber sein Körper hatte nach so vielen Jahren der Beschäftigung mit Büchern, religiösen Handschriften und alten Dokumenten die Form eines Fragezeichens angenommen. Er begrüßte Julius lächelnd und musterte ihn mit seinen klaren und lebhaften Augen.
»Welch eine Freude, dich zu sehen, Julius!« sagte er und schüttelte ihm die Hand.
»Vielen Dank, daß Sie mich ohne weitere Umstände empfangen, Rabbi Goldmann.«
»Was kann ich für dich tun?«
»Ich wollte fragen, Rabbi«, sagte Julius und sah sich suchend in dem abgedunkelten Haus des Rabbi um, dessen überquellende Regale und Bücherschränke verrieten, daß hier ein großer Liebhaber von Büchern lebte, »ob ich vielleicht Ihren Computer für etwa eine Stunde benutzen kann.«
Santa Fe, New Mexico
›Man nennt es das Methusalem-Syndrom‹, erklärte der Gast in der Talkshow. ›Die Sehnsucht nach dem ewigen Leben oder die Illusion,
Weitere Kostenlose Bücher