Die Prophetin
ist er eigentlich? Ich habe ihn lange nicht gesehen.«
»Morgen ist die Wintersonnenwende, der Tag, an dem die Kachinas aus der Kiva kommen. Aber das wird diesmal nicht geschehen, denn die Sonnen-Kachina ist verschwunden.«
»Hm, und wo ist Kojote?«
»Ich weiß es nicht. Ich habe ihn auch nicht gesehen und mache mir große Sorgen.«
»Um ihn mußt du dir keine Sorgen machen. Vermutlich ist er damit beschäftigt, aus einem anderen Pueblo eine Kachina zu besorgen, damit die Kiva geöffnet werden kann. Ich glaube, das machen sie so.« Miles trat einen Schritt zurück und sah Erika an. Sie wirkte stets jünger, als sie war, immer gepflegt und attraktiv.
Aber an diesem Tag entdeckte er verwundert Falten um Augen und Mund. »Liebste«, sagte er freundlich,
»auf dir lastet noch etwas anderes. Was ist es?« Sie sah ihn mit großen, verzweifelten Augen an. »Ich habe Angst.«
»Angst! Wovor?«
»Was geschieht mit uns, wenn wir sterben, Miles?« fragte sie plötzlich. »Kommt nach dem Leben einfach nichts? Werde ich dich oder die Kinder nie wiedersehen? Diesen Gedanken kann ich nicht ertragen. Ich habe Angst. Miles, halt mich fest…« Er nahm sie in die Arme. Seine Niedergeschlagenheit verwandelte sich in eine Mischung aus Verwirrung und Zorn. Hatte die allgemeine Hysterie der bevorstehenden Jahrtausendwende nun auch seine Frau erfaßt?
Wonach suchte Erika? Warum nur die Angst? Warum schien jedermann plötzlich Antworten zu wollen, die niemand geben konnte? Begriffen die Menschen nicht, daß das Dasein auf der Erde alles war, was sie hatten, und daß sie das Beste daraus machen mußten, solange ihnen noch die Zeit dazu blieb? Miles dachte an die Berichte im Fernsehen und an die Interviews mit dem ›Mann auf der Straße‹. Sie alle wurden von denselben Ängsten gequält wie Erika. Die Menschen dachten nur noch an den Tod, das Ende und was danach kommen würde Miles wußte darauf nichts zu sagen. Wer konnte sich schon hinstellen und behaupten, wirklich etwas zu wissen? Auch wenn er Zugriff auf alle Informationen der Welt hatte, diese Fragen machten ihn hilflos, und das erfüllte ihn mit Empörung und Wut.
Plötzlich erinnerte er sich an einen Satz aus der Übersetzung der Schriftrollen. Ohne nachzudenken zitierte er: »›Satvinder glaubte, wenn wir sterben, kommen wir nach Schalimar, in das Land der Seelen, das man auch den Garten der Liebe nennt.‹« Erika sah ihn überrascht an. »Miles, das ist wundervoll! Wo hast du das gehört?«
»Ich weiß nicht, ich habe es vermutlich irgendwo gelesen.«
»›Schalimar‹, wie schön das klingt! Wenn ich nur daran glauben könnte, dann wäre ich glücklich, denn ich wüßte, daß ich nie von dir und den Kindern getrennt sein werde!« Miles sah verblüfft, daß Erika plötzlich strahlte. Die Tränen waren verschwunden, sogar die Falten und Fältchen schienen sich zu glätten, und sie sah wieder jung und bezaubernd aus. Er wollte ihr sagen: ›Es steht noch mehr dort, wo ich das gelesen habe, sehr viel mehr! ‹
In diesem Augenblick setzte der Tiger wieder zum Sprung an. Miles spürte, wie ihn das Adrenalin aus den Tiefen seiner Zweifel riß. Wie konnte er nur so dumm sein und sich wie eine kranke Katze in eine Ecke verkriechen, alte Wunden lecken, über die zweite Lebenshälfte nachdenken und sogar mit dem Gedanken spielen, die Jagd nach den Schriftrollen aufzugeben? Wenn nicht er, wer sonst auf der Welt sollte gegen den apokalyptischen Unsinn der Menschheit immun sein? Er nahm Erika am Arm und sagte fröhlich:
»Komm, gehen wir zu den Kindern. Wir sollten dabeisein, wenn sie die Geschenke auspacken.«
Die Unsicherheit, die ihn schon beim Aufwachen überfallen hatte, war verschwunden. Er hielt die Zügel wieder fest in der Hand. Er würde dieser Archäologin die Schriftrollen abjagen. Aber von jetzt an ging es nicht darum, sie in seinem Museum zu verstecken. Er würde nie vergessen, wie Erikas Augen plötzlich geleuchtet hatten…
Ja, die Schriftrollen würden ein Geschenk für Erika sein, mit dem er sie glücklich machen konnte.
Las Vegas, Nevada
›»Satvinder glaubte, wenn wir sterben, kommen wir nach Schalimar, in das Land der Seelen, das man auch den Garten der Liehe nennt.‹« Garten der Liehe…
Catherine hob den Kopf und dachte nach.
Sie und Garibaldi hatten im Atlantis eine Suite für Geschäftsleute. Das bedeutete zwei Schlafzimmer mit getrennten Bädern, ein Büro mit zwei Schreibtischen, ein Fax und einen Drucker, zwei Modemanschlüsse, zwei
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