Die Prophetin
daß man ewig leben wird‹
›Also sagen Sie mir bitte, Herr Doktor‹, unterbrach ihn der Moderator mit einem professionellen Lächeln.
›Glauben Sie, daß die Schriftrollen das geheimnisvolle Rezept enthalten, das es den Menschen ermöglicht, ewig zu leben? Viele unserer Zuschauer hoffen das.‹
Der Experte räusperte sich und sagte mit dem ganzen Nachdruck seiner fachlichen Autorität: bedauerlicherweise, John, wissen wir nicht, was in den Schriftrollen steht, oder ob es diese Schriftrollen überhaupt gibt. Genaugenommen wissen wir nicht einmal, ob Catherine Alexander noch am Leben ist! Erinnern wir uns, die allgemeine Hysterie wurde durch die Spekulation ausgelöst, in den Schriftrollen werde das Geheimnis des ewigen Lebens offenbart. All das hat seinen Ausgangspunkt in dem einen Satz, besser gesagt, in zwei Worten, die in dem Fragment vorkommen, das die Zeitungen veröffentlicht haben: Zoe aionios.< Er machte eine bedeutungsvolle Pause und übersetzte dann: ›Das bedeutet ewiges Leben.‹
›Aber beziehen sich diese Worte auf ein ewiges Leben hier auf Erden oder im Himmel nach dem Tod?‹
Mües schaltete den Fernseher aus und füllte ein Glas mit eisgekühltem Wasser. Er saß in seinem Büro. Die Wiederkehr des Messias und das ewige Leben! Die Öffentlichkeit hatte sich auf diese beiden Begriffe in dem Fragment gestürzt: Parousia und Zoe aionios. Was würden die Leute tun, dachte Mües, wenn sie erfahren sollten, daß die Frau, deren Geschichte in den Schriftrollen erzählt wird, in der Tat einen Alchimis-ten geheiratet hatte, der tatsächlich nach dem Geheimnis des ewigen Lebens suchte? Die Menschen würden in ihrer Hysterie nicht vor Mord und Totschlag zurückschrecken, nur um in den Besitz der Schriftrollen zu kommen.
Er trat an ein Fenster und blickte auf den grünen Rasen hinunter, wo einige seiner Gäste Golf spielten. Miles seufzte. Dieser ›Schwachsinn‹, wie sein Vater sagen würde, hatte scheinbar die ganze Welt erfaßt. Alles drehte sich nur noch um das bevorstehende neue Jahrtausend. Astrologen in Montana hatten das >Neue Jerusalerru gesichtet. Sie behaupteten, es bewege sich auf die Erde zu und werde nach ihren Berechnungen am Neujahrstag die Reise durch den Weltraum hinter sich gebracht haben. Astro-Futurologen behaupteten, die NASA habe ein Schwarzes Loch über dem Nordpol entdeckt. Die Sache sei streng geheim, weil es für alle, die von der Erde fliehen wollten, das Sternentor zum Himmel sei. In England häuften sich Meldungen, nach denen beobachtet worden sei, wie sich die Megalithen in Stonehenge aus eigener Kraft bewegten.
Miles schüttelte unwillig den Kopf. Dann lächelte er, denn eine Schar Kinder lief lachend und aufgeregt über den Hof. Sie versammelten sich vor dem Haus, um den Weihnachtsmann zu begrüßen, der bald mit einem Schlitten und vielen Geschenken eintreffen sollte. Der Weihnachtsmann gehörte zu Erikas Weihnachtsfeier für die Kinder der indianischen Mission. Einmal im Jahr erleben sie die Wunderwelt des Reichtums, und dann müssen sie wieder zurück in die Armut… Miles staunte über den plötzlichen Anflug von Zynismus und wandte sich vom Fenster ab. Was war nur mit ihm los? Schon beim Aufwachen war er schlechter Laune gewesen, und daran hatte sich nichts geändert. Der erste Anruf am frühen Morgen hatte auch nicht gerade dazu beigetragen, seine Stimmung zu bessern. Seine Berater, die immer zu übertriebener Vorsicht rieten und ständig den Teufel an die Wand malten, beschworen Miles noch einmal, auf den Kauf der Software-Firma zu verzichten, da der Justizminister persönlich dem Antrag zur Bildung eines Aus-schusses zugestimmt hatte, der den Konzern und seine Versuche, den Markt zu monopolisieren, untersuchen sollte. Außerdem geriet er inzwischen ins Kreuzfeuer der Filmindustrie. Man forderte ihn ultimativ auf, die Digitalisierung ehemaliger Filmstars und ihren Mißbrauch für billigste Unterhaltung zu stoppen.
Das war ein Angriff auf die neue Software, die Anfang des nächsten Jahres auf den Markt kommen sollte.
Innerhalb weniger Monate würde sich jeder, der einen Computer besaß, damit zum Partner von Marilyn Monroe oder zur Partnerin von Gary Cooper machen können.
Miles wußte, er sollte seine Gedanken auf diese ernsten Probleme richten, aber es wollte ihm einfach nicht gelingen. Der Papyrus aus dem sechsten Jahrhundert, der Aki Matsumoto gehört hatte, erwies sich als nutzlos. Im Begleittext der Übersetzung aus Kairo hieß es, daß die
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