Die Prophetin
ganzer Ehrgeiz jedoch darauf, wieder lebend aus dem Gemetzel herauszukommen. Er wollte in die USA und zu Erika zurück. »Sir«, sagte Perez, »habe ich die Erlaubnis, die Männer auf die Suche nach etwas Eßbarem zu schicken?«
»Das ist nicht nötig, mein Junge. Ihr werdet schlemmen, bevor die Nacht zu Ende ist.«
Die Augen der Männer in den hageren, verdreckten Gesichtern wurden groß. Schlemmen?
Was?, hätten sie alle am liebsten gefragt.
»Hier ist eine kleine Vorspeise, um euch Appetit zu machen«, sagte der Oberst. Er blieb stehen und pflück-te dunkelgrüne Blätter von einem großen Strauch, der mit ungewöhnlich roten Blüten übersät war. Er verteilte die Blätter wie Hostien und ermahnte die Männer: »Ihr müßt gut kauen. Der Saft ist das Wichtige daran.«
»He, Unteroffizier«, flüsterte Smart, dessen jungenhaftes Kinn große Pickel zierten, »sollen wir uns vielleicht von jetzt ab wie Pferde von Gras ernähren?«
Perez zog nachdenklich die Stirn in Falten und blickte in die ängstlichen Gesichter der anderen. Er wußte, was sie dachten. Es kam immer häufiger vor, daß sich Mannschaften von ihren Vorgesetzten ›trennten‹. Sie rollten Splittergranaten in die Zelte von Offizieren, die daraufhin in tausend Stücke zerrissen wurden.
»Bleibt cool«, sagte Perez.
Es stellte sich heraus, daß die Blätter nicht schlecht schmeckten – ähnlich wie Spinat, aber mit einer gewissen Schärfe, die an Coffein erinnerte. Da ihre Mägen knurrten, folgten sie dem Beispiel des Oberst, kauten herzhaft auf den Blättern herum und schluckten sie hinunter. Von plötzlichem Heißhunger gepackt, rissen sie immer mehr Blätter von dem Strauch und stopften sie sich gierig in den Mund.
Bald leuchtete der Dschungel in neuen Farben. Überall schienen Smaragde zu hängen. Die feuchte Erde schien unter ihren Stiefeln sanft zu seufzen, als wanderten sie über die Brüste einer Frau. Die Luft verfes-tigte sich und wurde zu Seide. Miles stellte fest, daß seine Ohren überempfindlich wurden. Er hätte schwö-
ren können, daß er den Nebel hörte, der sich auf der anderen Seite der Welt in die Bucht von San Francisco wälzte.
»Wahnsinn, schön…«, seufzte Jackson.
Miles spähte durch die dicken Lianen und Schlingpflanzen und sah in einiger Entfernung eine leuchtend rote Pagode aus dem Dunst aufsteigen. Ihre geschwungenen Dächer strahlten golden.
Er schloß die Augen und öffnete sie wieder. Die Pagode verschwand. Es war nur ein abgestorbener Baum.
»Tiger jagen nachts«, erklärte der Oberst, als die Sonnenstrahlen im Dschungel verblaßten. Sie hörten Vo-gelrufe, die wie das Lachen kleiner Mädchen klangen, und einmal, als sie anhielten, um noch mehr Blätter zu pflücken, schwor Miles, er höre, wie sich die Blüte einer Orchidee entfaltete.
»Die Vorderbeine und Schultern eines Tigers«, fuhr der Oberst fort, »sind sehr muskulös, und an den Pfoten hat er lange, spitze einziehbare Krallen. Der Schädel ist kurz, um die Hebelwirkung der mächtigen Kiefer zu verstärken. Unsere Tigerin ist eine starke Mutter.«
Goldstein begann zu summen. Er lächelte glücklich. Der junge Smart seufzte: »Waaauuuu…« Perez hielt sich eine Hand vor die Nase und schnupperte am Handgelenk.
Miles blieb stehen und betrachtete eine große glänzende Popcorn-Maschine, die zwischen den Farnen stand. Es war eine altmodische Maschine auf einem Karren mit großen Rädern und einem Aufbau, der wie ein Zirkuszelt aussah. Miles schmatzte in Erwartung der salzigen, gebutterten Popcorns. Doch die Maschine löste sich auf und wurde wieder zu einem gewöhnlichen Steinhaufen.
»Da ist sie!« sagte der Oberst mit gedämpfter Stimme und blieb so unvermittelt stehen, daß Smart ihn an-rempelte. »Was ihr da seht, Jungs«, fuhr er flüsternd fort und teilte Elefantenohr-Blätter, um auf eine Lichtung zu spähen, »ist der indochinesische Tiger. Er ist dunkler gefärbt als der indische und heller als der südchinesische Tiger. Im letzten Jahrhundert wurde er nahezu ausgerottet. Ist sie nicht schön?«
Die Männer spähten durch das Laub. »Ich sehe keinen Tiger«, murmelte Goldstein.
Auch Miles sah nichts außer einer dunklen Lichtung, auf der das Gras wie Perlmutt schimmerte. Das Licht des gerade aufgegangenen Mondes trieb seine Spiele mit den Naturgesetzen: Formen veränderten sich, dehnten sich aus und nahmen die ursprüngliche Größe wieder an. Aber irgend etwas bewegte sich im Gras.
Sie hörten es – weiche Pfoten auf dem
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