Die Prophetin
zurückgekommen. Zum ersten Mal seit dem Ende des Krieges stellte sie sich wieder die Frage: Was hat ihn so verändert?
»In Vietnam gibt es keine Tiger, Mann!«
Perez, Unteroffizier Manuel Perez, widersprach seinem Vorgesetzten. Aber er tat das nicht in Hörweite des Oberst. Perez mochte tollkühn sein, aber ein Selbstmörder war er nicht. Es war Sommer 1968. Es hatte tagelang nicht aufgehört zu regnen. Während die Sintflut das Land in einen Sumpf zu verwandeln schien, hockten die Männer in einem stinkenden Zelt und fragten sich, in welche neue Hölle sie diesmal geraten waren.
Vor zwei Tagen hatten sie die letzten Essensrationen aufgebraucht. Sie mußten weiter, schlugen das Zelt ab und waren jetzt, als sie im Gänsemarsch durch den dampfenden Dschungel marschierten, völlig ausgehungert.
Gefreiter Miles Havers, zwanzig Jahre alt, hatte noch nie in seinem ganzen Leben einen solchen Hunger gehabt. Im Basislager, wo sie genug zu essen hatten, überließ er sich sexuellen Phantasien. Jetzt gab es keine Verpflegung mehr, und seine Phantasien kreisten um das Essen. Der Hunger, so erkannte er, veränderte die Prioriäten eines Menschen.
Doch es gab etwas Schlimmeres als den Hunger. Die Männer der kleinen Kampfeinheit ahnten zwei schreckliche Dinge. Erstens: Sie waren so weit von ihrem Regiment entfernt, daß sie sich wahrscheinlich bereits hoffnungslos verirrt hatten. Sie hatten seit langem weder ein Dorf noch ein Reisfeld gesehen. Befanden sie sich überhaupt noch auf südvietnamesischem Gebiet?
Zweitens, und das machte ihnen noch mehr angst, ihr Oberst war offensichtlich verrückt geworden.
»Hört mal her, Jungs!« rief er ihnen von der Spitze des desolaten, bunt zusammengewürfelten Trupps her zu, »die gelben Teufel sind in der Gegend. Sie haben es auf uns abgesehen.« Daran mußte er seine Männer nicht erinnern. Sie waren sich der Allgegenwart der Vietkong so sehr bewußt, daß ihre Nerven unter der Anspannung zu zerreißen drohten. Selbst das Sonnenlicht auf ihren Gesichtern schien sie wie Sandpapier wundzuscheuern. Alle lauschten auf das metallische Klicken von Patronen, die in die Kammer einer AK-4/
gedrückt wurden, denn das wäre das Signal gewesen, mit einem Kugelhagel von 350 Geschossen in der Minute den Dschungel in einen Fleischwolf zu verwandeln.
Aber noch schlimmer war die Bedrohung durch Pimgi-Pflöcke – angespitzte grüne Bambusrohre, die überall auf den Dschungelpfaden in getarnten Fallgruben steckten. Sie machten das Gehen zu einer ganz neuen Herausforderung.
Der Oberst hackte sich einen Weg durch das dichte Unterholz und rief fröhlich: »Denkt immer daran, was der große Sun Tse gesagt hat: ›Was dich nicht umbringt, macht dich stärker‹ «
Der Oberst hatte sich verändert. Miles glaubte, das stehe irgendwie in einem Zusammenhang mit dem Hubschrauber, der den Major und den Leutnant abgeholt hatte – oder das, was von ihnen übriggeblieben war.
Der Oberst hatte danebengestanden und eingehend das Blut des Majors an seiner Hose betrachtet. Dabei hatte er gelächelt und gesagt: »Ich werde den Tiger finden…«
Deshalb konnte Miles nicht aufhören, an das Funkgerät zu denken. Der Oberst hatte ihnen gesagt, es sei im Schlamm begraben worden, als sie der sintflutartige Regen überraschte. Aber weshalb hatte der Oberst dabei den Hörer in der Hand gehalten? Sag es nicht!
Der Oberst hatte den Hörer in der Hand, weil er das Funkgerät absichtlich zerstört hat.
Aber wieso, um Himmels willen? Damit er auf seine verrückte Tigerjagd gehen kann. »Tiger jagen allein, Jungs«, sagte der Oberst und zog einen aufgeweichten Zigarrenstummel aus der Tasche seines Tarnanzugs.
»Der Tiger legt auf der Suche nach Beute bis zu zwölf Meilen zurück und verläßt sich mehr auf seine Augen als auf den Geruchssinn. Sobald er die Beute erspäht, verkriecht er sich in das Unterholz und wartet auf den richtigen Augenblick, um sie anzuspringen.«
Er steckte die angerauchte Zigarre in den Mund und sprach zwischen den Zähnen weiter, während seine ausgehungerten, erschöpften Männer hinter ihm hertrotteten, ohne auf ihn zu hören.
»Die eigentliche Jagd ist sehr eindrucksvoll, Jungs. Der Tiger bewegt sich geduckt und mit erhobenem Kopf sehr langsam und vorsichtig. Dabei setzt er die Pfoten behutsam auf und verharrt immer wieder re-gungslos. Wenn er die Beute anfällt, erreicht er sie mit wenigen Sätzen. Ein Tiger greift von der Seite oder von hinten an, und, Jungs, denkt immer daran, ein Tiger
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