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Die Prophetin

Die Prophetin

Titel: Die Prophetin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: wood
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springt niemals hoch in die Luft oder macht zu große Sätze. Beim Reißen der Beute befinden sich seine Hinterbeine fest auf der Erde.«
    Der Trupp überquerte unter den üblichen Vorsichtsmaßnahmen einen kleinen Bach.
    Der Oberst fuhr in seinem Vortrag fort: »Die Beute wird am Hals gepackt und umgeworfen. Dann schleppt der Tiger sie ins dichte Unterholz und frißt sie über einen Zeitraum von mehreren Tagen auf. Dabei beginnt er immer«, sagte der Oberst grinsend, »hinten. Und er hört erst auf, wenn von dem Opfer nur noch Haut und Knochen übrig sind.« Er lachte zufrieden. »Der Tiger, den wir suchen, Jungs, ist ein Menschenfresser.
    Es ist eine Tigerin, und sie hat einen Dorfbewohner getötet, um ihre Jungen zu schützen. Offenbar fand sie mehr Geschmack an Menschenfleisch als an ihrer üblichen Beute, nämlich Hirsch und Wildschwein. Inzwischen hat sie dreizehn Menschen getötet und gefressen. Die Leute in der Gegend nennen sie Seelendiebin, weil sie vierzehn Seelen gestohlen hat.«
    Perez schloß auf und murmelte Miles zu: »Wenn du mich fragst, der Oberst hat nicht mehr alle Tassen im Schrank.« Goldstein brachte eine Schachtel Camel zum Vorschein und reichte sie herum, aber sie waren alle zu nervös, um die Zigaretten anzuzünden. Mit den Augen des Oberst stimmte etwas nicht. In der Mitte der Pupillen befand sich ein beängstigender schwarzer Fleck, der immer größer zu werden schien. Wenn er sich umdrehte und seine Männer ansah, überlief es Miles jedesmal eiskalt. Plötzlich war ihm der Oberst unheimlicher als die Vietkong oder die ganze nordvietnamesische Armee.
    Miles mußte immer wieder an die Kompasse denken. Es war sonderbar, daß er und alle anderen es geschafft hatten, ihren Kompaß zu verlieren. Nur der Oberst besaß noch einen, und er blickte hin und wieder darauf, ohne den Männern irgendwelche Erklärungen zu geben. Wohin zum Teufel führte er sie?
    »Sperrt eure Augen und Ohren auf, Jungs«, sagte er. »In der Gegend ist eine Vietkong-Patrouille gemeldet worden.« ›»Patrouille‹, was für ein Scheiß«, sagte Jackson, der einzige Schwarze des Trupps. »Ich habe gehört, es ist eine Brigade, Mann. Eine Brigade der nordvietnamesischen Armee, die bis zu den Zähnen mit sowjetischen Panzern und Artillerie bewaffnet ist. Ich meine, was zum Teufel suchen wir hier überhaupt?«
    »Wir jagen einen Tiger«, erwiderte der Oberst, der ihn gehört hatte, und grinste.
    Perez sagte leise: »Der Oberst hat wirklich eine Macke. O Gott, hab ich einen Hunger.«
    Miles überprüfte zum hundertsten Mal das Magazin seines automatischen Revolvers und schob ihn wieder in das Halfter zurück. Seine andere Waffe hing über der linken Schulter und schien mit jedem Schritt schwerer zu werden. Es war ein 3er Ithaka, ein Selbstladegewehr, und weil es die Kugeln horizontal streute, tötete man damit sehr schnell und wirkungsvoll. Es flößte Miles eine ungeheure Angst ein. Vietkong sind in der Gegend. Sie haben es auf uns abgesehen. »He, Feldwebel«, flüsterte der junge Smart, der achtzehn war, aber wie ein Zwölfjähriger aussah. »Was ist, wenn wir wirklich einen Tiger finden?«
    Der Oberst hörte die Frage, obwohl er ein paar Schritte vor ihnen ging. »Hier ist ein Tiger, mein Junge. Ich habe im Ponderosa davon gehört.«
    Das Ponderosa war eine ehemalige französische Villa im Hauptquartier in Saigon, die inzwischen als Bar diente. »Ein großer Tiger, haben sie mir versichert. Es ist mit Sicherheit unsere Menschenfresserin.«
    »Sir, glauben Sie nicht…«
    »Panthera tigris!« rief der Oberst fröhlich. »Die größte Spezies der Katzenfamilie. Er lebt überall, wo es ihm paßt. Man findet ihn im Schnee und im Bambus, im Regenwald und in der Wüste.« Er lachte leise.
    »Den Tigern gehört die Welt.«
    »Darf ich fragen, Sir«, sagte Perez, »warum wir diesen Tiger jagen?«
    Der Oberst blieb wie angewurzelt stehen, drehte sich um und warf einen erstaunten Blick auf seine Männer.
    »Man sollte glauben, Unteroffizier Perez, das liegt auf der Hand.« Er drehte sich wieder um und marschierte weiter.
    »Jetzt«, murmelte der junge Smart mit klappernden Zähnen, »jetzt habe ich aber wirklich Angst.«
    Auch Miles hatte Angst, zum ersten Mal in diesem absurden Alptraum von einem Krieg. Er hatte keine eigene Meinung über das Töten. Als er sich überlegte, ob er seinen Einberufungsbescheid verbrennen und nach Kanada flüchten sollte, machte er bereits Liegestützen in einer Kaserne. Jetzt richtete sich sein

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