Die Prophetin
geschlossen, weil heute Heiligabend ist.«
Catherine warf verstohlen einen Blick über die Schulter zurück. Seit sie den Killern in Las Vegas so knapp entkommen waren, saß ihr die Angst im Nacken. Vor elf Tagen hatte Hungerford mit der Sprengung das Jesus-Fragment ans Tageslicht gebracht. Hinter ihr lagen elf fast schlaflose Nächte. Wann würde sich das ändern?
Mrs. O’Toole war sehr entgegenkommend und ließ Catherine die Mahlzeiten auf ihr Zimmer bringen. Garibaldi hatte an diesem Morgen mit ihr gefrühstückt: selbstgemachtes Gebäck, Omelett mit Käse, frisches Obst und starker Kaffee. Catherines Zimmer mit einem Himmelbett, dem handgenähten Quilt, frisehen Blumen und der englischen Seife im Badezimmer gefiel ihr gut. Wenn sie nur nicht weiter fliehen müßten und sich hier eine Weile ausruhen könnten…
Sie bogen um die Ecke auf die Wisconsin Avenue, und Garibaldi rief: »Da!«
»Wie bitte?« Sie blickte über die Straße und wußte sofort, was er meinte.
Ein weihnachtlich dekorierter Computerladen. Drinnen drängten sich die Käufer, und im Schaufenster hing ein Plakat, auf dem stand:
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Sie liefen über die Straße, betraten das Geschäft, und Catherine bekam einen Riesenschreck. Vor ihnen stand Miles Havers! Dann sah sie zu ihrer Beruhigung, daß es sich nur um einen lebensgroßen Aufsteller aus Pappe handelte. Auf der Suche nach den Vorführ-Computern stießen sie überall auf den Pappmann
›Havers‹. Sein Konzern beherrschte den Markt. Er war zweifellos ein Idol und verkörperte die Zukunft, denn jeder kaufte sich mit seinen Produkten die Fahrkarte in das neue Jahrtausend. Niemand wollte zurück-bleiben. Kein Wunder also, daß die Leute in langen Schlangen geduldig vor den Kassen standen. Computerspiele und Software-Pakete von Dianuba Technologies waren die großen Hits. Die Frauen kauften ›Butterfly 33‹, die neueste interaktive Romanze auf CD-ROM. »Ich verstehe das nicht«, murmelte Garibaldi, während sie sich einen Weg durch die Menge bahnten. »Die Leute verehren diesen Verbrecher wie einen Helden. Er ist für sie eine Mischung aus Superman und Weihnachtsmann.«
Über dem Aufgang zur Dianuba-Software-Abteilung hing ein Transparent. Dort stand, daß beim Kauf jedes beliebigen Artikels ein bestimmter Anteil des Preises der privaten, gemeinnützigen Regenwald-Stiftung von Miles Havers zugute komme.
»So werden Massen manipuliert!« stieß Catherine wütend hervor.
Die Vorführ-Computer waren von Neugierigen umlagert. Vor allem Jugendliche standen an den Tastaturen, klickten sich durch die Angebote im Web, kämpften in virtuellen Welten und entdeckten den Spaß, an Li-ve-Diskussionen teilzunehmen. Sie suchten in den Foren nach Angeboten auf den ›Schwarzen Brettern‹
und brachten die Drähte zu den Nachrichten der Welt zum Glühen.
Ein Verkäufer redete auf eine Frau ein, der man ansah, daß sie absolut nichts von all dem verstand, was ihr angeboten wurde. »Dieses Feature ist kostenlos in das Dianuba-Sicherungspro-gramm KeepOut installiert.
Und das Besondere: Brauchen Sie eine große Datei, sagen wir, aus Anchorage, Alaska? Kein Problem. Auf dieses Symbol klicken, dann sind Sie im Ver- und Entpackungsprogramm, das heißt, in Ihrem Fall werden die komprimierten Daten nach dem File Transfer eingelesen und für Sie auf den Bildschirm gebracht…«
Die junge Frau nickte unsicher, und der Verkäufer legte ihr strahlend das ›Komplettpaket für die Verbindung zum Daten-Highway‹ in den Einkaufswagen. Garibaldi warf einen Blick auf den ›Superpreis‹: dreihundert Dollar!
Als endlich ein Computer frei wurde, eroberte sich Catherine geistesgegenwärtig die Tastatur. Garibaldi hielt Wache, während sie arbeitete. Auf dem Computer war die sehr schnelle Scimitar Software installiert.
Mit einem Mausklick war sie im IRC. Erleichtert sah sie den Eintrag: #hawksbill. Das bedeutete, die Gruppe war Online. Natürlich würden sie staunen, daß sich Catherine über IRC meldete. Sie war versucht, sich einzuwählen, wagte es aber nicht. Wenn Havers die Sache mit ›Hawksbill‹ herausgefunden hatte, war es möglich, daß er sich einen Namen aus dem Roman zugelegt hatte und nur auf ihr Auftauchen wartete. Deshalb tippte sie:
/join #janet,
drückte die Eingabetaste, und auf der rechten Bildschirmhälfte erschien:
#janet i.
Catherine wußte, das Sicherste wäre gewesen, einen unsichtbaren Kanal zu schaffen. Aber dann hätte sie
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