Die Prophetin
modrigen Boden. »Großer Gott«, hauchte der junge Smart. »Da ist sie!« Wahrhaftig tauchte die Bestie auf der Lichtung auf. Es war eine schöne schlanke Tigerin mit elegant geformten Hinterbeinen. Ihr Fell wirkte im fahlen Mondlicht wie Schnee, durch den in dramatischen schwarzen Streifen die Erde zu sehen war. Sie war so schön, daß es den Männern den Atem verschlug.
Wieso wittert sie uns nicht, dachte Miles.
Die Bestie drehte den Kopf und blickte mit schräg geschnittenen, mandelförmigen Augen in die Richtung der Männer. Sie leckte sich mit einer überraschend rosafarbenen Zunge die Lippen. Plötzlich erstarrte sie jedoch, als wittere sie Gefahr. Der Oberst richtete sich furchtlos auf, schoß und traf die sechshundert Pfund schwere Raubkatze mitten in die Brust. Sie sank mit einem lauten Gurgeln ins Gras.
Der Oberst rannte auf die Lichtung, zückte das Messer, der weiße Bauch blitzte auf. Er öffnete das Tier mit einem Schnitt von der Kehle bis zu den Lenden. Der Tiger stieß ein fürchterliches Gebrüll aus.
Dann war der Oberst auf den Knien, griff mit beiden Händen in den offenen Leib und begann, die Innereien herauszuholen -Nieren, Magen, Därme, die schwarzrote Leber. Das warme Blut tropfte, als er rief: »Greift zu, Jungs!« Die ausgehungerten Männer zögerten nicht. Perez tauchte als erster die Arme in den offenen Leib, und als er sie zurückzog, waren sie bis zu den Ellbogen rot. Er hielt etwas Gelbes in den Fäusten.
»Bries«, sagte er triumphierend und ging daran, es zu verschlingen.
Als Miles näher kam, warf er einen Blick auf das Gesicht der Tigerin. Ihre Augen standen offen, und flüchtig wirkten sie beinahe wie die einer Frau. Dann spürte er, wie sein Magen knurrte, und er stürzte sich ebenfalls auf das rohe Fleisch. Die Männer bemalten sich mit roten Streifen und lachten wie Kinder unter dem Rasensprenger an einem heißen Sommertag. Sie stopften sich voll mit dem Tigergeist und prahlten damit, die Seele der Seelendiebin zu essen und vielleicht sogar die Seelen der Menschen, die sie gefressen hatte.
Miles zog das Hemd aus, verrieb eine Handvoll klebriges Blut auf seiner weißen Haut.
Er hätte schwören können, daß das Herz der Tigerin noch schlug, als er es in zwei Teile schnitt und Jackson eine Portion zuwarf. Während er auf dem festen Herzmuskel kaute, schob er energisch einen Gedanken beiseite, der ihn verfolgte. Es war ein unangenehmer, häßlicher Gedanke.
Sie war noch nicht tot, als der Oberst sie aufgeschlitzt hat. Der Gedanke verschwand, sie waren keine den-kenden Männer mehr, sondern Kreaturen, die nur noch die nackte Lust am Überleben kannten. Sie hörten den Hubschrauber nicht kommen, und später wußte keiner von ihnen, wie sie die Lichtung verlassen hatten.
Perez, Smart, Goldstein und Jackson behaupteten später, sie könnten sich nur daran erinnern, im Militär-krankenhaus von Saigon aufgewacht zu sein. Doch Miles hatte nicht vergessen, daß sie an Bord des Ret-tungshubschraubers gekommen waren, und er gehört hatte, wie jemand sagte: »Mein Gott, was haben die Kerle denn gemacht? Es sieht aus, als hätten sie in Blut gebadet, und dabei sind sie nicht einmal verwundet…«
»Sieh dir ihre Gesichter an. Sie haben etwas gegessen.«
»Aber was? Da war doch nichts.«
»Ich habe etwas gesehen…«
Jahre später hatte Miles aus heiterem Himmel einen Anruf erhalten. Unteroffizier Perez, der inzwischen als Anwalt in West Virginia lebte, rief mitten in der Nacht an und sagte: »Ich habe nachgeschlagen. In Vietnam gibt es keine Tiger! He, Miles? Es war doch ein Tiger? Wir haben doch einen Tiger gegessen?«
Washington, D.C.
»Sind Sie sich der Ironie bewußt?« fragte Garibaldi, als sie durch die ruhige Straße gingen, während ihnen der kalte Wind ins Gesicht blies.
»Welcher Ironie?« Catherines Stimme drang gedämpft durch den dicken Wollschal, der beinahe ihr ganzes Gesicht bedeckte. Sie waren gezwungen, das sichere Haus zu verlassen, um an einen Computer heranzu-kommen. Drei Tage waren vergangen, seit sich Catherine mit der Bitte, nach Informationen über Tymbos zu suchen, an die Hawksbill-Gruppe gewandt hatte. Sie wollte herausfinden, ob jemand etwas entdeckt hatte. »Wir sind hier in einer Stadt«, erwiderte Garibaldi, »wo alle Bibliotheken ihren Benutzern Zugang zum Internet anbieten. Hier ist der ideale Ort, um nach einer möglicherweise existierenden Kopie der Texte oder nach der siebten Schriftrolle zu suchen. Aber die Bibliotheken sind
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