Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Prophetin

Die Prophetin

Titel: Die Prophetin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: wood
Vom Netzwerk:
Verständnis waren damals dringend notwendig, denn viele Zeichen wiesen daraufhin, daß vor dem Ende der Welt eine lange und schwere Zeit der Verwirrung kommen werde.
    Eines Abends erschien ein Mann mit einer Botschaft aus Rom in unserem Haus. Mein Vater zog sich mit ihm in sein Arbeitszimmer zurück, und sie sprachen lange und leise miteinander. Am nächsten Tag verbreitete sich in Antiochia die Nachricht von einer großen Niederlage der kaiserlichen Truppen in Germanien. Ich hörte, daß der Kaiser meinen Vater in das Rheinland schicken wollte, und wir waren entsetzt. Schon als kleines Kind hatte ich viele schreckliche Geschichten über die Wilden im kalten Norden gehört. Man drohte den ungehorsamen Kindern mit den grausamen Barbaren und erzählte ihnen, die Wilden am Rhein äßen kleine Kinder bei lebendigem Leib. Und ich glaubte diese Geschichten.
    In den nächsten Tagen kamen Freunde meines Vaters in unser Haus. Ich hörte sie reden. Alle waren der Ansicht, daß der endlose Krieg gegen Germanien wenig mit dem Schutz der Reichsgrenze zu tun habe, sondern dem Kaiser nur dazu diene, von den Schwierigkeiten im Reich abzulenken.
    Meine Mutter ging jeden Tag zum Tempel der Vesta. Sie opferte der Göttin und betete. Als sich am Ende der Woche die Gemeinde zur Lesung der Botschaft und zum Liebesmahl in unserem Haus versammelte, bat meine Mutter die Anwesenden um ihre Gebete und Segenswünsche.
    Wir sollten nie erfahren, ob mein Vater wirklich in das Rheinland hätte ziehen müssen, denn eines Abends in den Kaienden des Mai wurde er vor dem Haus überfallen, ausgeraubt und zusammenge-schlagen.
    Ein bekannter Heiler wurde gerufen, der meinen Vater untersuchte. Er stellte fest, daß ihm ein Schlag auf den Kopf das Bewußtsein geraubt hatte. Vermutlich würde er nicht mehr aus der Ohnmacht erwachen. Meine Mutter gab dem Mann die Erlaubnis, den Schädel meines Vaters zu öffnen. Während der Heiler versuchte, das Leben meines Vaters zu retten, beteten wir für ihn.
    Philos, so hieß der Mann, war eine angenehme Erscheinung. Er hatte schöne Augen und ein scharf geschnittenes Gesicht. Er war zehn Jahre älter als ich. Mich beeindruckten seine Ruhe, sein Wissen und seine Tatkraft. Aber in den Tagen und Nächten, in denen er meinen Vater behandelte, faszinierte mich am meisten, was er sagte. Sein Leben, so erklärte er, stehe unter dem Motto ›cito tuto jucunde‹ –
    schnell, sicher, behutsam. Er hielt sich wirklich an sein Motto, denn er war ein sehr guter Heiler. Das Verbrechen an meinem Vater kommentierte er mit den Worten: ›Schlangen beißen keine Schlangen.
    Doch einem Menschen widerfährt das größte Unheil durch seine Mitmenschen‹
    Philos wollte nicht nur Krankheiten heilen. Sein eigentlicher Traum war es, den Tod zu besiegen. Er gehörte zu den Stoikern, die glauben, daß am Tag des Weltuntergangs ein Meer die Erde verschlingen wird. Was die Natur auseinandergebrochen hat, sagte er, wird wieder zu einer einzigen Masse zusammengefügt, und wir werden im Chaos versinken. Aber er sagte auch, dieser Tag sei noch fern und werde nicht zu unseren Lebzeiten kommen.
    Philos stammte aus Griechenland. Sein Aufenthalt inAntiochia war nur eine Etappe auf seiner Suche.
    Er erzählte mir, er habe von einer wundersamen Medizin der Götter gehört, die alles heile – Schmerz, Fieber, Angst, Impotenz, Unfruchtbarkeit. Diese Medizin vertreibe sogar den Tod. In allen Städten und Dörfern, in allen Kulturen und bei allen Völkern, in Legenden und Mythen werde von diesem Wundertrank gesprochen. Die Zusammensetzung sei vor langer, langer Zeit in Vergessenheit geraten, aber Philos glaubte, er werde das Wundermittel wiederfinden, wenn er nur die Suche danach nicht aufgab. Als mein Vater starb – niemand gab Philos die Schuld daran, denn er hatte getan, was in seinen Kräften stand – , tröstete er mich mit den Worten: ›Seine Zeit war gekommen. Der größte Segen der Natur ist es, wenn ein Mensch stirbt, nachdem seine Aufgabe auf Erden erfüllt ist.‹
    Meine Mutter ließ sich von diesen Worten nicht trösten, denn sie fand, mein Vater sei viel zu früh gestorben. Sie war verzweifelt, aber nicht über seinen Tod, denn auch sie sah im Tod nur einen natürlichen Schritt auf der Seelenwanderung, sondern weil er nicht zum Glauben an den Weg des Gerechten gefunden hatte.
    Auch mich bekümmerte das, denn meine Mutter sagte immer, unser Glaube sei der einzige Weg, um den Tod zu besiegen. Der Gerechte hatte uns gelehrt, daß wir nur

Weitere Kostenlose Bücher