Die Prophezeiung der Nonne: Roman (German Edition)
aus würden wir, er und ich, uns auf den Weg durch Southwark zur London Bridge machen. Da Norfolk zweifellos sofort seine Leute nach Dartford entsenden würde, um mich dort zu suchen, wollten wir Unterkunft in einem Londoner Gasthaus nehmen, bis die rechtlichen Auseinandersetzungen begannen.
Im Nu waren Catherine und ich aus dem Haus. Als ich mich an der Straße, wo Bruder Edmund unter einer kahlen Eiche wartete, von ihr verabschiedete, drückte sie mir eine Börse mit Münzen in die Hand. Ich wusste, dass das ihr ganzes Geld war, und wollte ihr die Börse zurückgeben, doch das ließ sie nicht zu.
»Ihr werdet mir fehlen, Joanna«, sagte sie mit zitternder Stimme. »Ihr seid der einzige Mensch, der freundlich zu mir war, ohne eine Gegenleistung zu erwarten.«
Wir umarmten einander noch einmal, dann trat ich an der Seite von Bruder Edmund den Weg nach London an. Jedes Mal, wenn ein Reiter vorbeitrabte, krampfte sich mein Magen zusammen.Ich fürchtete ständig, die schwarz-goldene Livree zu sehen und jemanden laut meinen Namen rufen zu hören. Doch niemand achtete auf uns. Die Straßen wurden belebter, die Herrschaftshäuser blieben zurück. Wir gelangten in den raueren Teil Southwarks – und endlich zur London Bridge.
Vom Südufer der Themse aus war es ein fantastischer Anblick. Häuser und Läden, alle in unterschiedlichen Farben gestrichen, drängten sich auf der steinernen Brücke. Ich hatte gehört, dass Buchmacher, Kaufleute und Künstler in diesen Häusern hoch über der Themse lebten.
»Oh, da wartet ja schon eine ganze Schlange«, sagte Bruder Edmund bedauernd und zeigte auf die lange Reihe wartender Fußgänger neben dem Strom von Pferden und Fuhrwerken, der sich in die enge dunkle Öffnung, mehr Tunnel als Brücke, bewegte. »Das könnte länger dauern, als uns lieb ist.« Er warf einen Blick auf die Holzbank vor dem Haus, neben dem wir, etwas abseits vom Gedränge, stehen geblieben waren.
»Wollt Ihr Euch nicht setzen?«, fragte er. »Ich erkundige mich inzwischen. Ihr seht müde aus, und bis Lincoln’s Inn haben wir noch ein ganzes Stück zu laufen.«
Ich setzte mich, und während ich Bruder Edmund nachsah, der den Rest des Wegs zur Brücke eilte, merkte ich, wie gut mir diese kleine Rast tat.
Von der anderen Straßenseite hörte ich ein seltsames raues Brüllen, dem lautes Jubelgeschrei folgte. Es schien von jenseits einer hohen Wand aus Holzplanken zu kommen, die zu einem gewaltigen Ring zusammengeschlossen waren. Wieder stieg das heisere Brüllen auf – ich hatte ein solches Geräusch noch nie gehört. Doch ich konnte nichts sehen; die hohe Bretterwand des Rings versperrte mir die Sicht.
Ein alter Mann, der neben der Bank stand, bemerkte meine Neugier.
»Das sind die Bären, Miss«, sagte er.
Ich starrte ihn an. »In Southwark gibt es Bären?«
»Sie fangen sie in fernen Gegenden ein und bringen sie nachSouthwark«, erklärte er. »Die Leute sparen monatelang für einen Ausflug zur Bärenhatz.«
Ich schluckte. An irgendetwas erinnerte mich diese Geschichte mit den Bären.
Eine Rotte junger Männer führte jetzt Hunde in die Arena, große Hunde. Ich wusste, dass sie auf den gefangenen Bären gehetzt werden sollten, aber nicht, wie genau diese grausame Jagd vonstattenging.
Plötzlich überlief es mich eiskalt. Ich hörte Orobas’ dumpfe Stimme, die den Geist einer lang verstorbenen sächsischen Nonne heraufbeschwor: Baut auf den Bären, wenn ihr den Stier schwächen wollt.
Und sogleich kam mir Schwester Elizabeth Bartons Prophezeiung in den Sinn. Warum überfielen mich gerade jetzt, mitten im lärmenden, schmutzigen Southwark, diese Erinnerungen? Ich hatte keine Ahnung, doch ich konnte die Worte nicht zurückdrängen: Wenn der Rabe das Seil erklimmt, muss der Hund sich in die Lüfte erheben wie der Falke .
Ich spürte Gertrude Courtenays Blick auf mir, diesen Blick inständigen Flehens, mit dem sie mich auf dem Weg zum Fuhrwerk angesehen hatte. Tu etwas , hatte dieser Blick mich angefleht. Doch ich hatte nie eine Ahnung gehabt, was ich überhaupt tun konnte.
»Schwester Joanna?« Bruder Edmund war schon zurück. »Was ist passiert?«, fragte er drängend. »Ihr seht aus, als wäre Euch ein Geist begegnet.«
»Es ist nichts«, antwortete ich. »Nur die Bärenhatz. Nichts weiter.«
Er sah mich verwundert an. »Habt Ihr so große Angst vor Bären?«
Ich sprang auf. »Können wir jetzt hinüber?«
Da die Brücke so schmal war und der Wagenverkehr so dicht, erklärte Bruder Edmund,
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