Die Prophezeiung der Nonne: Roman (German Edition)
zunehmende Niedergeschlagenheit bemerkte, obwohl ich mich nach Kräften bemühte, sie zu verbergen. Sie kannte die Schattenseiten des Lebens aus eigener Erfahrung und war keineswegs »die hübsche kleine Einfalt«, als die Elizabeth sie gern bezeichnete. Sie sprach selten von ihrer Vergangenheit, doch ich erfuhr, dass ihre Kindheit von Not und Vernachlässigung geprägt gewesen war. Niemanden hatte es gekümmert, was aus ihr wurde, bis der Herzog sie als Kandidatin für eine Stellung bei Hof entdeckte. Und auch jetzt war nicht ihr Glück das Wichtige – was zählte, war allein die Möglichkeit, dass sie es weit genug bringen könnte, um demFamilienclan von Nutzen zu sein. Es war klar, dass man von ihr eine Heirat mit einem vermögenden Mann erwartete, die die Howards von allen finanziellen Pflichten ihr gegenüber entbinden würde.
»Wenn Ihr hier so unglücklich seid«, sagte sie eines Morgens zu mir, als wir über einer Handarbeit saßen, »warum geht Ihr dann nicht nach Stafford Castle?«
»Ich habe mir in Dartford ein eigenes Leben geschaffen, mit Freunden und einem kleinen Jungen, der mich braucht«, antwortete ich. »Ich möchte eine Tapisseriewirkerei eröffnen. Jetzt steht mein Webstuhl unbenutzt in einer Lagerhalle.«
»Ich bringe kaum einen ordentlichen Kreuzstich zuwege, und Ihr wollt ganze Tapisserien herstellen?«, fragte sie voll ehrfürchtiger Bewunderung.
»Catherine, Eure Stickerei ist besser, als Ihr Euch zugesteht«, sagte ich und wies auf die Arbeit auf ihrem Schoß. »Ihr habt große Fortschritte gemacht.«
Selbst das kleinste Lob machte sie über die Maßen glücklich, so ausgehungert war sie nach ein wenig Anerkennung.
»Ich habe aber auch eine vortreffliche Lehrerin«, erwiderte sie mit einem Lächeln, das ein Grübchen in ihrer weichen Wange zum Vorschein brachte.
An einem kalten Freitagmorgen Ende November änderte sich alles. Ich hatte noch keine Nahrung zu mir genommen, denn ich war entschlossen, den ganzen Tag zu fasten, was ich schon viel zu lange nicht mehr getan hatte.
Ein leises Klopfen an der offen stehenden Tür riss mich aus meinen Gedanken. Catherine winkte mir aufgeregt, zu kommen.
Widerstrebend legte ich meine Stickerei weg und ging zur Tür. »Ist etwas passiert?«
»Ihr müsst mitkommen. Jetzt gleich«, sagte sie und zog mich aus dem Zimmer.
»Was ist denn?«, fragte ich, als wir durch den Korridor liefen. Doch sie antwortete nicht.
Wenig später blieb Catherine vor einer Tür am Ende des langen Ganges stehen und zog einen Schlüssel aus der Tasche.
»Was tut Ihr da?«, fragte ich ungeduldig.
»Pscht«, machte Catherine und schob kichernd den Schlüssel ins Türschloss.
»Es freut mich, dass Ihr so guter Laune seid, aber ich muss darauf bestehen, dass Ihr mir verratet, was wir hier tun«, sagte ich energisch.
Catherine flüsterte: »Vorhin ist ein Mann gekommen, der Euch sprechen möchte, und ich habe ihn hier versteckt.«
Geoffrey. Er hatte unsere Trennung nicht länger ertragen können. Eine wilde Freude durchzuckte mich, die jedoch sogleich von Furcht erstickt wurde. Wie konnte er so tollkühn sein, sich in Norfolks Haus zu wagen?
Sobald die Tür offen war, stürmte ich noch vor Catherine in den Raum, eine dämmrige Kammer voll alter Möbel.
Aus der Dunkelheit trat mir Bruder Edmund entgegen.
»Schwester Joanna«, sagte er, »ich bin gekommen, um Euch nach Hause zu holen.«
Kapitel 27
»Wollt Ihr nicht mit mir sprechen, Schwester Joanna?«, fragte Bruder Edmund.
Ich konnte kein Wort hervorbringen. Es war zu unglaublich, dass er nach dieser langen Zeit wirklich und wahrhaftig vor mir stand. Ich starrte ihn an, wie um mir jede vertraute Einzelheit für immer einzuprägen: das aschblonde Haar, das ein wenig zu lang war, weil er sich nie die Zeit nehmen wollte, es zu schneiden; das praktische dunkelbraune Wams, das ich mit ihm zusammen beim Schneider bestellt hatte, nachdem wir unsere Klostergewänderhatten ablegen müssen; die schmutzverkrusteten festen Schuhe. Er musste den ganzen Weg von Dartford bis zum Howard House zu Fuß gegangen sein.
»Ihr seid es – «, schluchzte ich.
Er kam sofort zu mir, um mich zu trösten. Seine Umarmung war anders als die von Geoffrey Scovill. Er drückte mit einer Hand meine Schulter und klopfte mir mit der anderen zart den Rücken. »Ich bin ja hier. Beruhigt Euch. Ich bin hier«, sagte er.
»Ihr seid mein Freund«, stieß ich hervor wie ein kleines Kind. Bruder Edmund lächelte. »Hat nicht Euer liebster
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