Die Prophezeiung der Nonne: Roman (German Edition)
Weilchen«, bat der Pförtner. »Ich habe schon so lange mit niemandem mehr über die guten alten Zeiten gesprochen. Morgen ist mein letzter Tag hier – wir werden auseinandergehen und uns wahrscheinlich nie wiedersehen. Noch einen Becher?«
Bruder Edmund ließ sich erweichen. Er setzte sich wieder, und die beiden Männer ergingen sich noch eine ganze Weile in Erinnerungen an alte Zeiten, als die Macht des Klosters noch ungebrochen gewesen war.
Schließlich stand der Pförtner auf und sperrte mit klapperndem Schlüsselbund die Tür zum Kloster auf. Voll ehrfürchtiger Scheu schritt ich unter himmelstrebenden Gewölbebögen hindurch, die von massigen Säulen getragen wurden. Vielfarbige, von Gold durchwirkte Deckengemälde schimmerten im Kerzenlicht. Hier spürte ich intensiver als irgendwo sonst das ungeheure Ansehen und die weitreichende Macht des Dominikanerordens. Unsere Führer berieten die Fürsten Europas. Unsere Gelehrten übersetzten die alten griechischen und lateinischen Schriften, die uns das Wissen einer verlorenen Welt offenbarten und die Gedankenwelt Livius’, Vergils und Plinius’ nahebrachten. Unsere Prioren waren Mäzene von Architekten und Musikern, sie entwarfen herrliche Gärten, unterstützten die Arbeit der größten Künstler, die die Welt kannte. Leonardo da Vincis Gemälde Dasletzte Abendmahl zierte die Refektoriumswand eines Dominikanerklosters in Mailand.
Im Speisesaal machten wir Halt. Der Pförtner wollte uns die Fenster zeigen. Dieses Refektorium war zehnmal so groß wie das in Kloster Dartford. Ich fühlte mich klein und demütig angesichts der Erhabenheit dieses Raums mit den schier endlosen Fensterreihen in der Westwand. Der letzte Glanz der Abenddämmerung fiel durch das Glas, ein violettstichiges graues Licht melancholischer Stimmung. Sechzehn Brüder? Sechshundert hätten in diesem Saal Platz gehabt.
Auf einem der Tische stand verlassen eine Holzschale, halb gefüllt noch mit Mixtum, dem kargen Frühstück für alle, die im Kloster lebten. Während ich auf die ausgetrockneten, steinharten Brotklumpen hinunterblickte, wurde mir bewusst, dass dies die letzte Mahlzeit der Brüder von Blackfriars gewesen war. An diesem Tag waren die sechzehn Männer hier hereingekommen, um ihr Frühstück zu verzehren. Ich konnte es mir vorstellen: Zu tief bekümmert, um mit Appetit essen zu können, hatte einer von ihnen, vielleicht einer der älteren, seine Schale weggeschoben und danach seine bescheidene Habe gepackt, um das Kloster für immer zu verlassen.
»Schwester, wollt Ihr nicht kommen?« Der laute Ruf des Pförtners riss mich aus meinen traurigen Gedanken. »Wir gehen jetzt in den großen Saal.«
Dieser Raum stellte an Größe alles in den Schatten, was ich bisher gesehen hatte, auch die Rittersäle in den Häusern der Courtenays und des Herzogs von Norfolk.
»Zweimal ist hier das Parlament zusammengetreten, und hier hat vor zwei Kardinälen das Scheidungsverfahren von König Heinrich und Königin Katharina stattgefunden«, sagte Bruder Edmund.
»Alles vorbei, alles vorbei«, murmelte der Pförtner mit brüchiger Stimme. »Das unzerstörbare Blackfriars ist nun zerstört, und das vom Urenkel eines walisischen Pferdeknechts.«
Bruder Edmund sagte augenblicklich: »Nein, nein, MisterPortinary, so dürft Ihr vom König nicht sprechen. Zügelt Euch.«
Der Pförtner nickte. »Ihr wart einer der Besten unter den Brüdern, Bruder Edmund. Alle haben gesagt, Ihr könntet einer der größten Dominikanergelehrten in ganz England werden. Und was ist aus Euch geworden? Ein Apothecarius in einer bedeutungslosen kleinen Ortschaft. Es ist eine Schande, und trotzdem tröstet Ihr mich .«
Bruder Edmund stand ganz still. Im dämmrigen Licht der Kerzen konnte ich seine Gesichtszüge nicht erkennen, aber das war auch gar nicht nötig. Ich hatte immer gewusst, dass in seinem tiefsten Inneren das Verlangen brannte, Großes zu vollbringen. Ich konnte ihm nicht glauben, wenn er darauf bestand, dass die Heilkunst eine echte Berufung sei und es völlig ausreiche, als Apothecarius tätig zu sein.
Der Pförtner merkte wohl, dass er Bruder Edmund mit seiner Bemerkung getroffen hatte. »Was rede ich da?«, rief er. »Zu viel Wein, viel zu viel Wein. Ich muss zu Bett.« Er lief eilig zur Tür des großen Saals. »Ich sehe Euch morgen, Bruder. Ich schließe ab. Niemand wird Euch stören.«
Das Letzte, was wir von ihm hörten, war die Melodie eines Liedes, das er vor sich hin summte und das bald
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