Die Prophezeiung der Nonne: Roman (German Edition)
zulassen.
»Ich habe es«, rief er laut und hielt ein kleines, in Leder gebundenes Buch in die Höhe.
Wir blätterten die Seiten gemeinsam um und übersetzten den lateinischen Text in gleicher Geschwindigkeit.
Mir stockte einen Moment der Atem, als mein Blick nach dem Umblättern einer dünnen Seite auf das Bild eines großen schwarzen Vogels fiel. »Ja«, rief ich. »Ich weiß, dass ich den gleichen Vogel damals in dem Buch gesehen habe.«
Ungeduldig folgten unsere Finger den Sätzen. Die Geschichte erzählte vom Leben des heiligen Benedikt in der Wildnis:
Zu den Mahlzeiten pflegte ein Rabe aus dem nahen Wald zu kommen und sich von Benedikt mit Brot füttern zu lassen. Als er diesmal kam wie gewohnt, warf der Gottesmann dem Raben das Brot hin, das der Priester ihm gegeben hatte und das vergiftet war. Und er sagte: »Im Namen unseres Herrn Jesus Christus, nimm dies Brot und bringe es irgendwo hin, wo niemand es findet.« Immer wieder befahl der Gottesmann ihm, dies zu tun, indem er sagte: »Nimm es, nimm es. Hab keine Angst.« Nach langem Zögern nahm der Rabe das Brot in seinen Schnabel und flog davon. Stunden später kam er zurück, nachdem er das Brot fortgeworfen hatte, und erhielt sein gewohntes Quantum aus den Händen des Gottesmannes. So waren der Rabe und Benedikt zu Beginn miteinander verbunden.
»Der Rabe war tatsächlich zu Beginn ein Symbol der Benediktiner«, sagte ich. »Und wenn das die Erfüllung einer alten Prophezeiung ist …« Ich sprach nicht weiter.
»Schwester Barton wurde doch gehängt, nicht wahr?«, fragte Bruder Edmund. »Dann hat der Rabe in der Tat das ›Seil erklommen‹, und das bedeutet, dass die Zeit des Raben um ist und jetzt die Zeit des Hundes angebrochen ist, eines Hundes, der zum Falken wird.«
»Aber wofür steht der Falke?«, fragte ich, ungeduldig und enttäuscht, dass jedem gelösten Rätsel ein neues folgte.
Bruder Edmund ging tief in Gedanken in der Bibliothek auf und ab. Endlich wandte er sich mir zu. »In diesem Fall geht es vielleicht nicht darum, was der Falke ist, sondern was er tut. Die Falknerei ist der Lieblingssport von Königen, und diese Vögel besitzen einen unglaublichen Instinkt für das Töten. Es ist bekannt, dass sie im Verborgenen bleiben und dann, wenn sie ihre Beute gesichtet haben, plötzlich aus der Luft herabstoßen.«
Ich umklammerte meinen Rosenkranz so fest, dass es wehtat. »Ihr glaubt, der Falke ist ein Symbol für mich und bedeutet, dass ich töten muss? Heilige Muttergottes, lass das nicht wahr sein. Ich könnte nie jemanden töten. Es ist eine Todsünde.« Ich starrte Bruder Edmund an. »Und Ihr könntet es genauso wenig. Ihr könntet niemals ein Leben nehmen.«
»Nein, Schwester.«
Seine Stimme hatte einen merkwürdigen Klang. Ich wartete schweigend.
Schließlich sagte er: »Mein Leben ist dem Dienst an Gott und den Menschen geweiht, ich will lernen und lehren, heilen und helfen. Das ist mein Weg und der Weg all jener, die ein heiliges Gelübde ablegen. Ein Leben in Frieden.« Er lächelte bitter. »Und deshalb ist es so leicht für den König und Cromwell, uns zu vernichten.«
»Wir wehren uns nicht«, flüsterte ich und dachte an Gertrudes trotzigen Vorwurf an dem Abend, als wir nach Londinium geritten waren. Tief beklommen fragte ich: »Glaubt Ihr, Ihr wärt fähig, im Dienst eines höheren Guten eine Gewalttat zu begehen, Bruder Edmund?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete er. »Das ist die Wahrheit.« Dann fügte er angesichts meiner Verwirrung und Furcht hinzu: »Das Ziel der Prophezeiung muss nicht sein, Schaden zu tun. Vielleicht sollt Ihr jemanden retten . Oder verhindern, dass sich etwas Schreckliches ereignet. Die geringste Tat zur rechten Zeit und am rechten Ort kann tiefgreifende Auswirkungen haben.«
Ich sank in einen Sessel und stützte meinen Kopf in die Hände. Alles drehte sich.
»Wir bedürfen jetzt des Gebets und göttlicher Weisung«, sagte Bruder Edmund mit fester Stimme. »Kommt, gehen wir in die Kapelle.«
In der herrlichen Kapelle von Blackfriars kniete ich vor dem Altar nieder. Bruder Edmund kniete sich neben mich. Es war seltsam, einander so nahe zu sein. Im Kloster Dartford und in der Dreifaltigkeitskirche saßen Männer und Frauen beim Gebet getrennt.
Mit fester, klarer Stimme begann Bruder Edmund das Totengebet der Dominikaner zu sprechen. »Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir. Herr, höre meine Stimme.« Er hielt inne und sah mich an. Ich begriff. Er wollte, dass ich das Gebet mit ihm
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