Die Prophezeiung der Nonne: Roman (German Edition)
war. Auf einem Baumstumpf auf der Weide neben dem Haus seiner Eltern stehend verkündete er Gottes Wort jedem, der es hören wollte.
»Auf einem Baumstumpf?«, fragte ich. Kaum etwas verwunderte mich mehr als die Verachtung, mit der die Reformer es ablehnten, ihre Gottesdienste in einer schönen Kathedrale oder Klosterkapelle – im Schmuck von bunten Glasfenstern, Heiligenbildern, edelsteinfunkelndem Gerät – zu halten, um sich dafür entweder in nüchternen Räumen oder auf freiem Feld zu versammeln.
»Seine Auslegungen der Heiligen Schrift sind höchst anregend«, erklärte mir Jacquard mit der Begeisterung des wahren Gläubigen. »Jedes Mal, wenn Timothy spricht, kommen mehr Leute zu den Bibelgesprächen.«
Jacquard ließ es sich nicht nehmen, den Transport des Webrahmens persönlich zu beaufsichtigen, als die vier Träger kamen. Die High Street war an diesem Nachmittag ziemlich belebt. Ich gab mir alle Mühe, unbekümmert zu erscheinen, während ich neben Jacquard herging; in Wirklichkeit machte mich die Wiederholung dieses unglückseligen Gangs nervös. Es war lächerlich, sich vor den einfachen Leuten hier zu fürchten. Dennoch gelang es mir nicht, meine Nerven zur Ruhe zu bringen.
Doch der Mann an meiner Seite erregte weit mehr Aufsehen als ich. Jacquard verzauberte die Frauen von Dartford. Ich bemerkte, wie die jungen – und auch einige, die nicht mehr so jung waren – ihn anstarrten.
»Ihr seid offensichtlich sehr beliebt, Mr Rolin«, stellte ich fest.
Jacquard lachte. »In höchst bescheidenem Maße. Ihr solltet einmal Constable Geoffrey Scovill durch die High Street gehen sehen. Ihr würdet staunen, welch erschütternde Wirkung er auf die Frauen von Dartford ausübt.«
Geoffreys Namen aus seinem Mund zu hören – und in so frivolem Zusammenhang –, machte mich von Neuem nervös. Ich hatte Geoffrey seit meiner Rückkehr noch nicht gesehen. Ich hätte ihn sofort unterrichten sollen, doch ich hatte nicht gewusst, was ich ihm schreiben sollte.
Als Jacquard von meiner Tapisseriewerkstatt zu reden begann, war ich froh – anfangs.
»Was Ihr vorhabt, ist bemerkenswert«, sagte er. »Ich habe Euren Entwurf gesehen, und ich muss zugeben, ich war überrascht über die Wahl Eures Themas für die erste Tapisserie.«
»Mein Entwurf war verpackt und versiegelt«, entgegnete ich. »Woher kennt Ihr ihn?«
Jacquard bat mit einer tiefen Verbeugung um Entschuldigung. »Ich brauchte Einzelheiten für unsere Bücher. Ich muss über alle eingehenden Waren genauestens Buch führen, das gehört zu meinem Auftrag. Nur deshalb habe ich Euer Paket inspiziert, doch sogleich wieder verschlossen.«
Vielleicht war er wirklich zu einer solchen Untersuchung berechtigt, trotzdem beunruhigte es mich, dass er in meinen Angelegenheiten herumstöberte.
»Was findet Ihr an einem Fabelwesen denn so überraschend?«, fragte ich.
Er lächelte. »Nun, zum einen ist es der hohe Anspruch dieses Kunstwerks. Der Phönix ist ein ungemein farbenschillerndes Geschöpf. Ihr werdet viele, viele verschiedene Farben und Farbtöne verwenden müssen. Zudem wollt Ihr den Phönix im Moment seines Lebensendes darstellen. Wenn er sich nach tausend Jahren in seinem Nest niederlässt und dann in Flammen aufgeht und verbrennt – und ein neuer, junger Phönix aus der Asche steigt. Wie wollt Ihr das Feuer abbilden?«
»Mit Goldfäden«, antwortete ich. »Und was den hohen Anspruch angeht – ich muss als erstes Werk aus meiner Werkstatt etwas wirklich Beeindruckendes schaffen. Eine Serie von Bildteppichen, die eine Geschichte erzählt, bringt das meiste Geld ein, aber ich habe nur einen kleinen Stuhl für drei Weberinnen. Es würdelänger als ein Jahr dauern, eine Serie herzustellen. Aus diesem Grund habe ich nur ein einziges Bild gewählt, ein besonders schönes, wie ich finde, für dessen Einschätzung ein Blick genügt. Wenn ich den richtigen Käufer finde und die Tapisserie an einem markanten Ort gezeigt wird, wird sie mir weitere Kunden bringen.«
Jacquard blieb stehen. »Aber – aber Ihr habt das ja wirklich bis in jede Kleinigkeit durchdacht. Ein brillanter Plan«, sagte er.
»Ach, das ist doch nicht der Rede wert«, wehrte ich verlegen ab. »Aber wolltet Ihr nicht noch etwas hinzufügen? Ihr sagtet vorhin ›zum einen‹. Überrascht Euch noch etwas an der Wahl meines Entwurfs?«
Er neigte den Kopf und sah mich mit seinen samtbraunen Augen an. »Ich frage mich, ob Ihr daran gedacht habt, was manche Leute im Bild des Phönix sehen
Weitere Kostenlose Bücher