Die Prophezeiung der Nonne: Roman (German Edition)
kleinste Anzeichen einer Wiederkehr seiner Schwäche achtete, bemühte er sich, mir zu helfen, die meine zu meistern – meine Neigung zur Heftigkeit.
Ich nahm meinen Platz vor dem Standbild der Jungfrau Maria ein. Es war immerhin ein Trost, in dieser schönen Kapelle beten zu dürfen, die mit einem farbigen Wandgemälde von Sankt Georg im Kampf mit dem Drachen prächtig ausgestattet war.
Hinter mir hörte ich die anderen kommen, die sechs Nonnen aus Kloster Dartford, die wie ich in der hiesigen Gemeinde geblieben waren und versuchten, weiterhin nach den Idealen unseres Ordens zu leben. Die anderen, auch unsere Priorin, waren nach der Auflösung des Klosters durch Heinrich VIII. und seinen Lordsiegelbewahrer, Thomas Cromwell, zu ihren Familien zurückgekehrt, und wir hörten nichts mehr von ihnen. Doch sechs unserer Ordensschwestern hatten ihre Renten zusammengelegt und sich in einem großen Haus etwas außerhalb des Dorfs niedergelassen, das Schwester Rachel, die älteste unter ihnen, vor Jahren geerbt hatte. Ich war nur deshalb nicht zu ihnen gezogen, weil ich ihnen ein Zusammenleben mit einem so schwierigen und wilden Kind wie Arthur nicht zumuten wollte. Stattdessen mietete ich, wie Bruder Edmund und Schwester Winifred, eine Wohnung aus dem Kircheneigentum der Dreifaltigkeitskirche.
Aber bei der Morgenmesse konnten wir alle zusammen sein wie früher, und das war ein Glück, wenn schon die täglichen gemeinschaftlichen Gebete nicht möglich waren.
Von Schwester Eleanors Kleidern tropfte das Wasser, der Saum ihres Umhangs war von dem langen Marsch durch den Regen durchweicht, aber nie wäre es ihr eingefallen, sich zu beklagen. Im Kloster war sie von der Priorin zur Aufseherin bestimmt worden, für die Durchsetzung der Ordensregeln zuständig. Ich hatte den Eindruck, dass sie sich jetzt als die Führerin der kleinen Gruppe betrachtete, obwohl auch Schwester Rachel – zehn Jahre älter als sie und Eigentümerin des Hauses – feste Vorstellungen davon hatte, wie sie ihr Leben führen sollten.
Der Hierarchie unserer verlorenen Welt gemäß hatte jede von uns bei der Messe ihren festen Platz, Schwester Winifred und ich, die ehemaligen Novizinnen, ganz vorn, die gebieterische Schwester Eleanor gleich hinter uns. Dann folgten Schwester Rachel, die ehemalige Verwahrerin der Reliquien, und Schwester Agatha, die frühere Novizinnenmeisterin, und, in der letzten Reihe, die drei anderen Schwestern. Bruder Edmund stand in strenger Einhaltung der Geschlechtertrennung auf der anderen Seite des Ganges.
Ich kämpfte gegen meine Ungeduld, während wir auf den Priester warteten. In der Stille war nichts zu hören als das Zischen einer Altarkerze und Schwester Agathas gelegentliches lautes Seufzen. Als ich mich nach ihr umdrehte, nickte sie mir sachte zu. Von allen Schwestern fehlte sie mir am meisten, die warmherzige, klatschfreudige Novizinnenmeisterin.
Endlich vernahmen wir den schlurfenden Schritt Pater Anthonys.
»Salve«, sagte er mit seiner knarrenden Stimme.
Nach den ersten Worten schaute ich zu Bruder Edmund hinüber. Das war nicht der richtige Text. Mein Freund, der im Lateinischen so zu Hause war wie ich, räusperte sich.
»Verzeiht, Pater, aber wir stehen nicht am Beginn der Fastenzeit.«
Der Priester zwinkerte irritiert. »Welchen Tag haben wir denn?«
»Den zweiten Oktober, Pater.«
»Und welches Jahr?«
Bruder Edmund antwortete milde: »Das Jahr des Herrn fünfzehnhundertachtunddreißig.«
Pater Anthony überlegte einen Moment, dann begann er von Neuem, diesmal mit den richtigen Worten.
Wie tief waren wir gefallen. Ich erinnerte mich mit Schmerzen: wie ich im betäubenden Hauch des duftenden Weihrauchs in meiner Novizinnenbank gesessen, gesungen und gebetet hatte; wie ich die reifen Früchte vom Kirschbaum im Obstgarten gepflückt oder in den kostbaren Handschriften der Bibliothek geblätterthatte. Ich spürte die gleiche Sehnsucht bei den anderen. Doch was konnten wir tun? Das Klosterleben in England war ausgelöscht.
Als wir nach der Kommunion hinausgingen, trafen schon die ersten Dorfbewohner zur regulären Messe ein. Eine Frau kniete am Altar nieder und tauschte liebevoll die Kerzenhalter gegen neue aus, die sie gerade blank poliert hatte.
Auf dem Weg durch den Mittelgang hörte ich jemanden weinen. »Das ist Oliver Gwinn«, sagte Bruder Edmund leise. »Seine Frau ist gestern gestorben.«
Ich blickte den Gang hinauf. Ein großer, kräftiger Mann stand dort ganz allein mit zuckenden
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