Die Prophezeiung der Nonne: Roman (German Edition)
Augenblicklich kehrten wir zu schicklicher Förmlichkeit zurück. Ich blieb noch etwa eine Stunde im Hospital. Später aß Edmund mit mir zu Abend, nachdem er Arthur eine Unterrichtsstunde erteilt hatte. Wir waren verlobt, daran hatte sich zu meiner Erleichterung und Dankbarkeit nichts geändert. Doch zwischen uns blieb einegewisse Vorsicht, die bisher nicht da gewesen war. Ich wartete darauf, dass er von Geoffrey Scovill sprechen würde. Er tat es nicht – und ich auch nicht.
Ich fiel aus allen Wolken, als mein Cousin Lord Henry Stafford und seine Frau Ursula mit ihren sechs Kindern in Dartford eintrafen. Ich hatte ihnen aus reiner Höflichkeit meine bevorstehende Heirat mitgeteilt, doch keinen Moment mit ihrem Besuch gerechnet. Henry hatte Stafford Castle seit Jahren nicht mehr verlassen. Für ihn hatte es sein ganzes Erwachsenenleben lang nur eins gegeben: die Politik und alles, was gefährlich werden könnte, zu meiden. Ich konnte kaum glauben, dass er es gewagt hatte, über London nach Dartford zu reisen.
Henry und Ursula schienen mir in den zwei Jahren, seit ich sie das letzte Mal gesehen hatte, stark gealtert zu sein. Beider Haltung war gekrümmt, ihre Gesichter wirkten müde und eingefallen. Doch Henry erklärte mit fester Stimme: »Joanna, ich muss Euer Brautführer sein. Das schulde ich Eurem Vater.«
Da mein Haus zu klein war, mussten meine Verwandten mit ihren Bediensteten wohl oder übel in einem Gasthof absteigen. Ich sah Henry an, dass ihm das nicht behagte, doch er ließ sich nichts anmerken. Die Familie Stafford bezog also Räume im Saracens Head Inn – jedoch nur für wenige Stunden. Die Neuigkeit ihrer Ankunft verbreitete sich schnell, und schon gegen Abend sprach Mr Hancock in meinem Haus vor und bestand darauf, meine Verwandten bei sich aufzunehmen. Die Einladung wurde gern angenommen, und ich verbrachte von da an viel Zeit mit Besuchen, um Arthur, der diese neue Verwandtschaft höchst aufregend fand, mit seinen älteren Cousins und Cousinen bekanntzumachen.
Zwei Tage vor meiner Hochzeit, als die Kinder spielten, kam Henrys Frau Ursula zu mir. Wir hatten nie Streit miteinander gehabt, doch ich hegte auch keine besondere Zuneigung für sie. Als ich noch auf dem Schloss gelebt hatte, hatte sie beinahe jedes Jahr ein Kind zur Welt gebracht und war vor allem mit sich selbst beschäftigt gewesen, sodass sie häufig geistesabwesend gewirkt hatte.
Als wir jetzt jedoch allein waren, fragte sie sehr klar und deutlich: »Habt Ihr meinen Bruder geliebt?«
Ich fand, sie verdiente die Wahrheit.
»Nein«, antwortete ich. »Ich habe ihn nicht geliebt und hätte ihn auch niemals lieben können. Henry Courtenay wollte diese Ehe zwischen Eurem Bruder und mir stiften. Ich kann aber sagen, dass ich eine – dass ich mich ihm nahe gefühlt habe.«
Einen Moment lang saß ich wieder neben Montague hinten auf dem Fuhrwerk. Ich fühlte seine Hände, die mein Gesicht umschlossen, und hörte ihn sagen: Ach, Joanna, Ihr könnt doch nicht einen Toten lieben.
»Ich weiß, dass Ihr auf dem Tower Hill für ihn gebetet habt, kurz bevor er gestorben ist.« Ursula fasste meine Hand. »Er war ein schwieriger Mensch. Zweifellos hochmütig. Aber er war ein liebevoller Bruder. Ich trauere um ihn. Ihr wisst nicht, wie sehr.«
»Auch ich trauere um ihn«, sagte ich. »Ich bin froh, dass ich etwas für ihn tun konnte, auch wenn es nur so wenig war.«
»Es war nicht wenig«, widersprach sie heftig. Ich sah sie an, und da wusste ich auf einmal, warum sie und Henry zu meiner Hochzeit gekommen waren. Es war ihnen nicht nur um das Andenken meines Vaters gegangen. Ursula hatte ihren Mann zu dieser Reise gezwungen, aus Dankbarkeit für das, was ich für ihren Bruder getan hatte.
»Die Poles sind so tief gefallen wie die Staffords«, sagte sie. »Mein Bruder Reginald ist dem König verhasster als jeder andere lebende Mensch. Godfrey ist ein gebrochener Mann. Der König hat ihn begnadigt, doch er wird wegen seiner Falschaussage von allen verachtet. Er und seine Gemahlin haben England verlassen, was hätten sie auch für eine Wahl gehabt? Jetzt wird meine arme Mutter in ihrem eigenen Haus bewacht. Sie verhören sie Tag und Nacht, um ihr eine Beteiligung an der Verschwörung nachzuweisen. Sie ist fast siebzig Jahre alt, Joanna, und ohne Schuld.«
Der von seinem Hass auf das Haus York besessene König richtete nun also seine Rachsucht auf eine alte Frau. Ich wünschtevon Herzen, ich hätte etwas tun können, um Ursulas Leid zu
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