Die Prophezeiung der Nonne: Roman (German Edition)
meisten fürchtete – einer Begegnung mit meiner Zukunft.
Ich holte tief Atem und sagte: »Die Zukunft ist ein Land, das ich nicht betreten darf.«
»Joanna.« Ich zuckte zusammen bei Gertrudes schrillem Aufschrei. »Ihr benehmt Euch wie eine Närrin. Der Doktor hat versprochen,dass nichts Böses oder Bedrohliches Euch vorausgesagt werden wird, wenn er einmal in Besitz der notwendigen Angaben ist. Ich finde Eure Angst befremdlich. Der Herzog von Buckingham wurde vor siebzehn Jahren hingerichtet. Ihr seid doch keine ergebene Dienerin des Willens seines Sohnes. Sonst würdet Ihr jetzt auf Stafford Castle bei Eurem Cousin und seiner Familie leben. Doch das tut Ihr nicht – Ihr habt ihm bisher allenfalls der Form halber Gehorsam erwiesen. Und doch zittert Ihr in dieser Frage vor seinem fernen Gebot? Das kann ich nicht glauben.«
In dem gespannten Schweigen nach ihren Worten ließen die beiden Mädchen auf den Sitzkissen ihre Nadeln ruhen. Der Arzt senkte den Blick.
»Ich habe keine Wahl«, sagte ich niedergeschlagen.
Dr. Branch ergriff seinen Beutel. »Nun ja. Ich habe noch andere Patienten, Marquise. Aber bevor ich aufbreche, würde ich gern noch das Wasser Eures Gemahls untersuchen. Ihr habt es mir doch aufbewahren lassen?«
Constance führte den Arzt hinaus. Ich blieb unter Gertrudes halb ungläubigem, halb wütendem Blick in meinem bestickten Sessel sitzen.
»Dr. Branch ist teuer, Joanna«, sagte sie. »Ich bin nicht erfreut über das, was sich gerade hier abgespielt hat.«
Ich stand auf. »Wenn Ihr mir sagt, was Dr. Branch verlangt, übernehme ich gern die Bezahlung.« Ich knickste tief und bemerkte, als ich mich wieder aufrichtete, die brennend roten Flecken in ihrem Gesicht und ihre hastigen Atemstöße. Sie war so ärgerlich mit mir, wie sie es in Dartford mit Mrs Brooke gewesen war.
»Lasst mich jetzt allein«, sagte sie mit mühsam beherrschter Stimme.
Kapitel 9
Den ganzen Tag versuchte ich vergebens, meine innere Ruhe wiederzufinden. Rastlos lief ich in meinem großen Zimmer auf und ab, vom Fenster zur Suffolk Lane, durch das die Herbstfrische hereinzog, zum offenen Kamin, wo Alice das Feuer neu angefacht hatte. Unablässiges Bedauern quälte mich. Die Courtenays waren Arthur und mir mit rückhaltloser Herzlichkeit entgegengekommen. Wenn es mir irgend möglich gewesen wäre, auf Gertrudes Wunsch einzugehen, hätte ich das ohne Zögern getan.
Gertrude war scharfsichtig genug, meinen Verweis auf ein Familiengebot für eine Ausrede zu halten. Es traf ja zu, dass ich mir sonst nichts von meinem fernen Cousin befehlen ließ. Doch ihr den wahren Grund meiner Ablehnung zu enthüllen – von meinem lang vergangenen Besuch bei der mit dem Tod bestraften Verräterin zu erzählen –, wäre gefährlich gewesen, nicht nur für mich, sondern auch für sie und ihren Mann.
Verzweifelt versuchte ich mich abzulenken, griff nach dem Buch, das ich vor Kurzem angefangen hatte, eine englische Übertragung vom Leben Eduard des Bekenners aus der Feder des Abts von Rievaulx, doch die Kämpfe des frommen Sachsenkönigs vermochten mich nicht zu fesseln. Als ich am Ende einer langen Passage merkte, dass ich nicht ein Wort aufgenommen hatte, klappte ich das Buch mit dem roten geprägten Einband entmutigt wieder zu. Die Bücher in meinem Schlafgemach waren alle Kostbarkeiten. Ich wusste, dass Gertrude in den letzten zwei Jahren in aller Stille Bücher und Manuskripte aus den großen Klöstern erworben hatte, die auf Befehl des Königs aufgelöst worden waren. Sie rettete Niederschriften des Martyrologiums, der Regel des heiligen Benedikt und des Vaterunsers vor den gottlosen Höflingen, die die Gotteshäuser besetzten. Gleich am ersten Tag meines Aufenthalts hatte sie mir eine erlesene Ausgabe von Mirror of the Blessed Life of Christ in die Hand gedrückt. Und nun musste sie mich widerspenstig und undankbar erleben.
Ich bekam plötzlich heftiges Heimweh nach den Freunden, die ich in Dartford zurückgelassen hatte. Die Spannungen im Haus Red Rose setzten mir zu. Mir blieben noch zwei Wochen hier, aber wenn ich an diesem Tag hätte abreisen können, ohne jemanden zu verletzen, hätte ich es getan. Hätte ich wenigstens mit Schwester Winifred sprechen können – und Bruder Edmund! Ich hatte vier Briefe von ihnen bekommen, drei von ihr und einen kurzen von ihm. Voll schmerzlicher Sehnsucht danach, seine beherrschte Stimme zu hören und in seine lauteren, klugen Augen zu blicken, warf ich mich auf das elegante Bett und
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