Die Prophezeiung der Nonne: Roman (German Edition)
schluchzte wie ein Kind. Als die Tränenflut endlich versiegte, fühlte ich mich erschöpft und etwas beschämt ob solcher Hemmungslosigkeit.
Kurz nach Einbruch der Dämmerung hörte ich draußen Pferdegetrappel. Fackelschein zog flackernd über mein Fenster wie jeden Abend, wenn es dunkel wurde. Henry Courtenay, Marquis von Exeter, kehrte nach Hause zurück.
Henry hätte sicherlich persönliche Räume am königlichen Hof bewohnen können, der gegenwärtig in Whitehall residierte. Doch er zog es vor, unter seinem eigenen Dach zu leben und hatte die Genehmigung erwirkt, täglich nach seinem Dienst zu seiner Frau und seinem Sohn heimzukehren. Als naher Verwandter des Königs und Angehöriger des Hochadels zum Hofdienst verpflichtet, begab er sich deshalb jeden Morgen nach dem Gottesdienst in der Hauskapelle unverzüglich zum Fluss, um sich zum Palast rudern zu lassen, und kehrte erst nach Einbruch der Dunkelheit heim. Mit Rücksicht auf seinen Tageslauf nahm die Familie ihre Hauptmahlzeit nicht, wie andernorts üblich, am frühen Nachmittag ein, sondern erst abends, wenn Henry am Kopf der Tafel Platz nehmen konnte.
Ich fand es immer wieder berührend, mit welcher Aufregung Henry zu Hause empfangen wurde. So viel freudigen Diensteifer einem Hausherrn gegenüber hatte ich nie zuvor erlebt. Türen wurden aufgerissen, Bedienstete rannten durch die Gänge, Rufe schallten von Stockwerk zu Stockwerk. Alle, vom Küchenjungenbis zum hochherrschaftlichen Kammerdiener, eilten sie herbei, um sich rechtzeitig zu Henrys Empfang und zur nachfolgenden Abendandacht einzufinden.
Als ich die Treppe erreichte, trat Henry gerade zur Haustür herein. Kerzen brannten überall. Die versammelte Dienerschaft, mehr als sechzig Leute, begrüßte ihn mit Verneigungen und tiefen Knicksen. Auch Gertrude, die ihn wie gewöhnlich auf der untersten Treppenstufe erwartete, knickste.
Immer wieder bin ich von den verschiedensten Leuten gefragt worden, was eigentlich die bezwingende Ausstrahlung Henry Courtenays ausmachte. Vielen empfindsamen Seelen geht sein Schicksal noch heute nach.
Zum Teil verdankte er seine Strahlkraft gewiss seiner äußeren Erscheinung. Er und der König hatten beide die hohe Statur, die helle Haut und die leuchtend blauen Augen ihres Großvaters, Eduard IV. aus dem Hause York, geerbt. Doch Henry Courtenay zeichnete sich dazu durch eine große Natürlichkeit aus, eine offene und freundliche Gelassenheit. Niemals pochte er einem anderen gegenüber auf sein Recht auf Gehorsam. Vielleicht wurde er ihm deshalb so bereitwillig erwiesen.
Während ich noch mit den anderen auf der Treppe stand, schob sich eine kleine Hand in die meine. »Joanna«, rief Arthur aufgeregt. »Ich habe heute mit Pfeil und Bogen geschossen.«
Es machte mich glücklich, Arthur so strahlen zu sehen. In den vergangenen zwei Wochen hatte er unglaublich viel gelernt, und das Sprechen bereitete ihm kaum noch Schwierigkeiten. Es grenzte an ein Wunder.
Wir sangen Henrys liebstes Kirchenlied, eine Tradition in der Familie, wie ich schnell gelernt hatte.
Bevor des Tages Licht vergeht,
O Herr der Welt, hör dies Gebet
Behüte uns in dieser Nacht
Durch deine große Güt’ und Macht .
Mein Blick fiel auf die Zwillingsbrüder Joseph und James. Der eine, dem ich zuvor im Korridor begegnet war, sang mit Inbrunst, der andere jedoch bewegte kaum die Lippen. Ich hatte gehört, dass Joseph durch einen Unfall im Kindesalter geistigen Schaden genommen hatte. Seither bemühte sich sein Bruder, ihm Helfer und Beschützer zu sein. Auch jetzt stieß er ihn ab und zu leise an, wie um damit die Erinnerung an das Lied wachzurufen.
Nach der Andacht schritt Henry mit einem Lächeln für diesen und einem freundlichen Nicken für jenen zwischen der Schar der Bediensteten hindurch und trat zu seiner Frau.
»Milady«, begrüßte er sie und küsste ihr die Hand.
In einer Hinsicht zumindest hatte Henry keine Ähnlichkeit mit Eduard IV., diesem schändlichen Ehebrecher. Die Liebe zu Gertrude war sein Leitstern.
Das Abendessen im Haus der Courtenays fand gewöhnlich in kleinem Rahmen statt. Neben der Familie und ihren Verwandten speisten nur Constance und Charles, die dem Hof des fürstlichen Paares vorstanden, mit an der Tafel sowie der Hauskaplan und ein junger Hauslehrer von der Universität in Oxford, der Edwards Unterricht leitete.
Bei den beiden Jungen drehte sich heute alles um das Bogenschießen. Edward hatte, wie sein Vater mit Stolz vernahm, an diesem Nachmittag große
Weitere Kostenlose Bücher