Die Prophezeiung der Nonne: Roman (German Edition)
einer entschiedenen Äußerung voraus. »Miss Stafford legt keinen Wert auf Schmeicheleien. Sie hält nichts von ihnen.«
»Ah, ja, natürlich, das klösterliche Leben hat seine Spuren hinterlassen«, gab der Fremde in ehrerbietig gedämpftem Ton zurück.
Gertrude wandte sich mir zu. »Das ist Dr. Branch, einer der hervorragendsten Ärzte des Landes. Er hat drei Jahre in Montpellier studiert. Niemals würde ich jemanden konsultieren, der seine Ausbildung lediglich an unserer Ärzteakademie genossen hat.«
»Seid Ihr oder Henry nicht wohl?«, fragte ich.
Sie zuckte mit den Schultern. »Alte Geschichten. Die Verdauung meines Gemahls ist immer eine Sorge. Und ich bin seit damals vor zehn Jahren nicht mehr dieselbe. Dr. Branchs Mittel sind die einzigen, die helfen.« Ich wusste, was England damals, im Jahr 1528, kurz bevor ich mit meiner Mutter nach Canterbury reiste, getroffen hatte: ein bösartiger Ausbruch des Schweißfiebers, an dem unzählige Menschen gestorben waren. Die Krankheit hatte Gertrude gezeichnet. Ihr Temperament war so lebhaft wie immer, doch ihr Körper war geschwächt. Eines Abends vertraute sie mir an, dass sie keine Kinder mehr bekommen konnte. Edward würde der einzige Erbe dieses Zweiges der Familie Courtenay bleiben.
Gertrude runzelte die Stirn. »Ihr scheint mir ein wenig aus der Fassung zu sein, Joanna.«
Ich wollte Gertrude nichts von dem Grausen sagen, das mich so plötzlich im Rittersaal überfallen hatte, jedenfalls nicht vor diesem Arzt, der mich immer noch mit merkwürdigem Blick musterte.
»Ich habe vorhin den Stadtausrufer mit seiner Nachricht über Kaiser Karl gehört und bin mir nicht sicher, was sie für uns bedeutet«, erklärte ich, froh, dass mir der ursprüngliche Anlass, Gertrude aufzusuchen, wieder eingefallen war.
»Die Niederlage bei Preveza.« Gertrude schlug mit der flachen Hand auf die Armlehne ihres Sessels. »Die muslimischen Türken haben das christliche Bündnis niedergeworfen.«
Wie so oft war ich beeindruckt von ihren Kenntnissen über die Angelegenheiten des Reichs.
»Kann das sein – der Muselmann unterwirft die Christen?«, rief Dr. Branch aus.
»Der Kaiser wird obsiegen«, sagte Gertrude.
»Seit drei Monaten«, berichtete der Arzt, »höre ich Gerüchte in London. Jetzt, da Frankreich nicht mehr unser Verbündeter ist, seien wir isoliert, heißt es. Vielleicht wird diese Niederlage im Mittelmeer – die Bedrohung durch die Muselmanen – den Kaiser von einer Invasion Englands abhalten.«
Invasion. Das Wort erschreckte mich, wie es jeden in unserem Inselreich erschrecken musste. Wie im ersten Augenblick, nachdem ich die bedrohliche Nachricht gehört hatte, flogen meine Gedanken zu Lady Maria.
»Aber die diplomatischen Bündnisse«, sagte ich vorsichtig, »und der Schutz, den sie für England bedeuten – und für die wichtigen Persönlichkeiten im Land –, bleiben doch unverändert bestehen?«
Gertrude sah mich an. »Diese Persönlichkeiten sind nach allem, was ich höre, weiterhin sicher«, erklärte sie mit einem so fein angedeuteten Nicken, dass es Dr. Branch vielleicht nicht einmal bemerkte. Mir aber war es tiefe Beruhigung. In unserer Ergebenheit der Tochter des Königs gegenüber waren wir uns einig.
Als unversehens Constance ins Zimmer kam, gebot Gertrude ihr, einen dritten Sessel bringen zu lassen.
»Ich bin sehr froh, dass Ihr zu mir gekommen seid, Joanna«, sagte sie. »Sonst hätte ich Euch rufen lassen. Bitte setzt Euch dem Doktor gegenüber.«
»Aber ich bin bei bester Gesundheit«, wandte ich ein.
»Dr. Branch ist nicht nur Arzt«, entgegnete sie.
Der dritte Sessel wurde gebracht, doch ich nahm nicht Platz. Mit wachsendem Unbehagen sah ich Dr. Branch in einem Bündel Papiere blättern. Sehr behutsam zog er ein einzelnes Blatt heraus, das mit einer Unzahl von Zeichen – Kreisen, Pfeilen und sich kreuzenden Linien – bedeckt war.
»Dr. Branch ist ein Astrologe erster Ordnung«, verkündete Gertrude.
Ich umfasste die Rückenlehne des Sessels, in dem ich eigentlich hätte sitzen sollen. »Es tut mir leid, Gertrude, ich wollte, ich hätte früher von dieser Idee erfahren. Verzeiht, aber das ist – unmöglich.«
Der Arzt blickte verwundert von seinen Schaubildern auf. »Unmöglich?«, wiederholte er.
»Ich kann mir nicht die Sterne deuten lassen«, sagte ich.
Gertrudes amüsiertes Lachen füllte den Raum. »Was ist denn das für ein Unsinn, Joanna? Jeder lässt sich die Sterne deuten. Ihr haltet die Astrologie doch nicht etwa
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