Die Prophezeiung der Nonne: Roman (German Edition)
kannte diese Hand, diese schnellen, anmutigen Bewegungen. Gewöhnlich war sie mit blitzenden Ringen geschmückt – doch an diesem Abend nicht.
Die Hand gehörte Gertrude Courtenay.
Kapitel 14
Noch lange nachdem die vier verschwunden waren, stand ich am Fenster. Wie leicht ich mich hatte täuschen lassen. Gertrude ging weiterhin ihren heimlichen Geschäften nach, und es mussten hochgefährliche Geschäfte sein, wenn sie sich, die Abwesenheit ihres Mannes nutzend, deswegen dem Nachtruhegebot zum Trotz bei Dunkelheit in Verkleidung auf Londons Straßen begab.
Ich beschloss, wach zu bleiben, bis die vier zurückkamen, ganz gleich, wie spät es werden würde. Danach wollte ich, wie versprochen, Charles mit einem Bericht zu Henry schicken.
In meinem Zimmer gab es keine Uhr, ich hatte daher keine Ahnung, wie lange Gertrude und die anderen ausblieben. Aber mir schien die halbe Nacht zu vergehen. Mehrmals war ich drauf und dran, der Erschöpfung nachzugeben. Aber ich widerstand der Versuchung.
Als ich wieder einmal mein Gesicht mit Wasser erfrischte, vernahm ich ein schwaches Geräusch. Auf Zehenspitzen schlich ich zum Fenster. Die Fackel draußen neben dem Tor war gelöscht worden. Es schien kein Mond. Trotzdem konnte ich mit einiger Mühe vier Reiter ausmachen, die die Suffolk Lane herunterkamen. Zwei von ihnen stiegen ab und begaben sich zum Tor. Die anderen beiden ritten zu den Stallungen. Gertrude war heimgekehrt.
Ich schlief ein, sobald ich den Kopf aufs Kissen legte, und es kam mir vor, als hätte ich nur Augenblicke geruht, als jemand mich sachte an der Schulter schüttelte.
»Es tut mir leid, Madam«, sagte Alice. »Ich habe geklopft, aber Ihr habt nicht geantwortet. Die Schneiderin ist hier.«
Ich hatte die Anprobe ganz vergessen. Es gelang mir nicht, die Schlaftrunkenheit abzuschütteln, es gelang mir nicht, einen klaren Gedanken zu fassen. Mich verdross diese Stumpfheit, ich musste jetzt meine fünf Sinne beisammen haben.
»Sagt Charles, dass ich heute Morgen eine Besorgung für ihn habe«, murmelte ich.
Ich wollte jetzt nicht von Schneiderinnen mit Stecknadeln und Maßband traktiert werden. Ich wollte jetzt Gertrude nicht sehen.
Sie schien überhaupt nicht müde zu sein. Mit scharfem Auge sah sie zu, während die Schneiderin und ihr Lehrmädchen an mir herumzupften. Der kostbare Silberlamé, der im Kasten des Händlers so schwerelos gewirkt hatte, lag drückend auf meinen Gliedern.
Doch bei näherer Beobachtung bemerkte ich eine Veränderung an Gertrude. Ihr Lächeln, ihr Lachen, all ihre Gesten warenvon einer übertriebenen Lebhaftigkeit. Ich erinnerte mich an unser erstes Zusammentreffen in Dartford, dort hatte ich die gleiche nervöse Anspannung hinter ihren höfischen Worten und Gesten gespürt. Damals hatte ich geglaubt, das sei ihre Art. Aber später, in ihrem Heim, hatte die Anspannung sich gelegt, Gertrude war ruhiger und gelassener geworden. Was hatte sie jetzt von Neuem so nervös gemacht? Es konnte nur mit den Ereignissen der vergangenen Nacht zu tun haben.
Nach der Anprobe bestand Gertrude darauf, dass ich blieb.
»Ihr habt bezaubernd schön ausgesehen in diesem Silber, Joanna«, sagte sie. »Es bringt Eure natürliche Erscheinung wunderbar zur Geltung.«
Ich sagte nichts.
Im selben künstlich leichten Ton fügte Gertrude hinzu: »Gönnt mir noch einen Augenblick Eurer Zeit, bitte. Mein Feinbäcker probiert eine neue Kreation aus, mit den neuen Zuckersorten von den Inseln jenseits des Meeres. Sagt mir, wie Euch diese Speise schmeckt. Wenn sie Euch zusagt, soll sie bei unserem Festessen serviert werden.«
Nur ungern nahm ich neben ihr Platz. Die neue Speise war nicht nach meinem Geschmack. »Zu süß«, sagte ich.
»Ach?« Gertrude spielte die Enttäuschte.
»Aber mich solltet Ihr nicht fragen. Ich mache mir nicht viel aus Süßspeisen.«
Gertrude neigte den Kopf ein wenig zur Seite. »Joanna versagt sich alle Freuden, selbst süße Leckereien.«
Ich hatte keine Lust mehr auf dieses neckische Getue und wollte aufstehen. Sofort hielt sie mich fest. Dann stand sie auf und stellte sich vor mich, die Hände in die Seiten gestemmt.
»Was ist eigentlich los, Joanna?«, fragte sie. »Seid Ihr krank?«
»Nein.« Ich versuchte, an ihr vorbeizukommen.
»Habt Ihr schlecht geschlafen?«, bohrte sie weiter.
Die großen braunen Augen zeigten nichts als Zuneigung. Probiert diese Kleider an, kostet von dieser köstlichen Speise. Und doch log sie und schmiedete heimliche Pläne, mit denen sie
Weitere Kostenlose Bücher