Die Prophezeiung der Nonne: Roman (German Edition)
unterdrücktes Schluchzen klang laut in der Stille.
Ein kurzes Klopfen an der Tür brachte ihn zum Schweigen. »Einen Augenblick«, rief er.
»Henry«, sagte ich. »Ich verspreche Euch, dass ich tun werde, was in meiner Macht steht, um Euch zu helfen, solange ich hier bin. Ich werde immer in Gertrudes Nähe bleiben und versuchen, auf sie einzuwirken – soweit mir das möglich ist. Und dann werde ich gehen.«
»Gott segne Euch, Joanna.« Er schaffte es nicht ganz, mir in die Augen zu sehen, bevor er hinauseilte.
Ich legte mich nicht wieder schlafen. Ich betete die ganze Nacht und bat Gott um Weisheit und Stärke. Bald nach Sonnenaufgang kam Alice. Ich sagte nichts über meine Abreise, sondern bat sie nur, mir Kleidung und etwas zu essen zu bringen. Als ich sie später zu Gertrude sandte, um anzufragen, ob sie mich empfangen würde, kam sie mit einer Zusage zurück.
Gertrude war an diesem Morgen nicht allein. Ein Fremder saß an ihrer Seite. Beide blickten auf einen großen Kasten, der auf ihrem Schoß lag. Genau konnte ich es nicht erkennen, da Gertrude mit dem Rücken zu mir saß.
Nun also musste die Beobachtung beginnen.
»Guten Morgen«, sagte ich. Meine Stimme klang natürlich.
Gertrude fuhr herum. Sie wirkte angegriffen, vielleicht war die Krankheit echt. Dann lockerte ein Lächeln die angespannten Züge. »Joanna, wie lieb von Euch, mich zu besuchen.« Sie eilte mir entgegen und hüllte mich in ihren Duft von Kamille, Rosmarin und herber Orange, als sie mich küsste. »Kommt und erfreut Euch mit mir an dieser Pracht.«
Sie gab ihrem Gast ein Zeichen, und der Fremde zeigte mir den Kasten, den er ihr abgenommen hatte. Er war gefüllt mit Stoffmustern in allen erdenklichen Farben und Geweben von Samt bis Brokat und Seide.
»Zeigt den Stoff, den wir ausgesucht haben«, befahl Gertrude.
Ein Glitzern wie das eines Wasserfalls im Sonnenlicht.
»Silberlamé vom ersten Brüsseler Händler«, erklärte Gertrude. »Ihr sollt für das Festessen meines Gemahls angemessen eingekleidetwerden, Joanna. Meine Schneider werden aus diesem Stoff rechtzeitig ein Kleid für Euch fertigen.«
»Das soll ich tragen?«, fragte ich.
»Baron Montague ist ein Verwandter des Königs. Er war bis zur Geburt von Prinz Eduard der mutmaßliche Thronerbe. Wir müssen uns von unserer besten Seite zeigen.«
Sie faltete die Hände, wie in Erwartung meines Protests, meiner Ablehnung ihres Ansinnens.
»Ich danke Euch, Gertrude«, sagte ich.
Das war der Anfang. Drei Tage blieb ich beinahe ständig an Gertrudes Seite. Es ließen sich keine bemerkenswerten Gäste blicken. Sie machte keine Besuche. Wir stickten, lasen, hörten uns Musik an. Einen Abend las ich ihr im Badezimmer aus einem Buch christlicher Klagelieder vor, während sie in ihrem Zuber lag und mit geschlossenen Augen lauschte. Arthur und Edward sahen wir zweimal am Tag. Die Jungen schienen die Szene im Hof vergessen zu haben, und niemand machte eine Bemerkung über mein Verlangen abzureisen. Der König wurde niemals erwähnt, ebenso wenig seine Tochter Maria oder ihr Verwandter, Kaiser Karl. Alles war so harmonisch, so frei von aller Heimlichkeit, dass es Augenblicke gab, in denen Henrys Anliegen, über sie zu wachen, in den Hintergrund rückte. Aber ich vergaß es nicht.
Doch am letzten Tag im Oktober wurde ich aufgeschreckt. Als ich in Begleitung von Alice durch den Hauptgang kam, hörte ich vorn einen lauten Ruf. Diener schleppten Stühle, Kisten und Truhen durchs Haus. Als ich näher kam, sah ich auch, wohin: Die hohe Flügeltür des Rittersaals war weit geöffnet.
»Was tun sie da?«, fragte ich Alice.
»Sie bereiten alles für das Festessen zu Ehren von Lord Montague vor«, antwortete sie.
Als ich hörte, dass Gertrude sich in der Küche aufhielt, eilte ich zu ihr. Es war Zeit, ihr von den Erscheinungen zu berichten, die mich im Saal heimgesucht hatten. Unmöglich konnte ich in diesem Raum speisen …
Die Köche hatten einen großen eisernen Kessel über demFeuer aufgehängt. Gertrude, eine Schürze über ihrem Brokatgewand, stand davor und spähte hinein. Ein süßer, fruchtiger Geruch wehte mir entgegen.
»Joanna, kommt und seht«, rief sie heiter. »Damit werden wir es Lady C zeigen.«
Ich warf einen Blick in den Kessel, in dem eine dunkle orangefarbene Flüssigkeit brodelte, zähflüssig und von kleinen Fruchtkernen durchsetzt.
»Quittenkonfitüre, als Geschenk für sie«, erklärte Gertrude. »Solche Geschenke sind in diesem Jahr die Mode. Lady Carews
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