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Die Prophezeiung der Nonne: Roman (German Edition)

Die Prophezeiung der Nonne: Roman (German Edition)

Titel: Die Prophezeiung der Nonne: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nancy Bilyeau
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nicht das Leben Eurer Familie aufs Spiel setzen werdet.«
    »Aber nur um der Sache willen, für die ich kämpfe, habe ichEuch hierher gebracht«, stammelte sie. »Ich muss wissen, was wir zu tun haben.«
    »Ganz gleich, was wir heute Nacht hören, Ihr dürft nichts tun«, entgegnete ich. »Wenn Ihr damit nicht einverstanden seid, gehe ich keinen Schritt weiter.«
    Gertrude brauchte nicht lang für ihre Entscheidung. »Ich bin einverstanden«, sagte sie resigniert.
    Ich zog das Kruzifix heraus, das ich um den Hals trug. »Schwört.«
    Gertrude neigte sich zu dem Kruzifix hinunter und drückte ihre Lippen darauf.
    »Jetzt bin ich bereit.« Ich wandte mich Hagar zu. »Ich komme aus freiem Willen.«
    Hagar führte Gertrude und mich durch das Tor. Es gibt ja noch den dritten Seher, sagte ich mir. Gleich, was heute Nacht hier geschieht, ich muss gar nichts tun, solange ich nicht die Prophezeiung eines dritten Sehers empfange – das hat Schwester Elizabeth Barton gesagt. Und diese dritte Prophezeiung werde ich nie empfangen.
    Das Heiligtum war vielleicht zwanzig Fuß lang und zehn Fuß breit. Es war nicht gut erhalten. Risse durchzogen die feuchten, bröckelnden Mauern. Auf dem Boden lagen die Trümmer einer Säule. Von einem vor langer Zeit umgestoßenen Standbild neben der Tür war nur ein Paar schmaler Frauenfüße geblieben, im Augenblick der Flucht auf einen Marmorsockel gebannt. In einer Ecke stand eine brennende Kerze. Mit der ihren zündete Hagar zwei weitere an. Im kräftigeren Licht zeigten sich gemalte Figuren auf den Mauern: Menschen in weiten Umhängen, mit Schilden bewaffnet, blickten mich mit großen Augen an. Fremdartige Worte waren über ihre Gesichter gekrakelt. Im Boden hatte man zwei flache runde Gruben ausgehoben. Ganz hinten an eine Seitenmauer gedrückt lag ein großer Steinquader – lang genug, um einen Leichnam zu bergen.
    Doch die Erkenntnis, dass in dieser Gruft menschliche Gebeine ruhten, war nicht das Schlimmste. Das Schlimmste war derGeruch: süßlich und faulig wie in einem Schlachthaus. In diesem Gelass hing der Geruch nach frischem Tod, obwohl es Hunderte von Jahren alt war.
    Am hinteren Ende des Raums erhoben sich zwei Pfeiler. Zwischen ihnen war Schwärze. Doch dann geriet die Schwärze in Bewegung und bildete sich zu einer eigenen Säule von beträchtlichem Umfang aus.
    Ich stand wie erstarrt.
    Die schwarze Säule bewegte sich vorwärts, in den Bereich des Kerzenscheins. Ein leuchtend weißes Haupt krönte sie. Vor mir stand ein Mann in einem weiten schwarzen Gewand, ähnlich dem ungegürteten Umhang eines Ordensbruders. Doch unter diesem losen Gewand waren seltsame Wellenbewegungen zu erkennen. Es sah aus, als wollte sich da etwas entfalten.
    Dann schlug der Mann das Gewand vorn auseinander, und ein Junge kam zum Vorschein, der sicher nicht mehr als elf Jahre zählte. Stolpernd trat er ans Licht, den Blick so leer, wie der Hagars gewesen war, als ich von den Boleyns gesprochen hatte.
    »Komm mit mir, mein Sohn«, sagte Hagar. Sie küsste ihn auf die Wange und drehte ihn zur Tür.
    »Gertrude«, stieß ich heiser hervor. »Das ist abscheulich. Das ist unerträglich.«
    Sie flüsterte: »Es ist zu spät, Joanna. Wir können jetzt nicht mehr gehen.«
    »Seid Ihr gekommen, um mir zu predigen, Braut Christi?« Die Stimme des Mannes war tief und rau. Er trat auf uns zu, ein wahrhaft furchteinflößender Anblick. Sein Schädel war kahl, die scharf geschnittene Nase unter der hohen, schmalen Stirn sprang stolz hervor. Seine Augen, groß und grau, flossen über vor Verachtung. »Dies ist kein Ort, an dem Frauen Predigten zu halten haben«, sagte er. »Dies ist ein Ort der Priester und Ordensbrüder, denen Ihr dient. Wisst Ihr nicht, dass sie brennen würden vor Verlangen nach Hagars Sohn?«
    Ich widerstand dem Drang, aus diesem Gelass zu fliehen. »Ihr irrt«, entgegnete ich fest. »Ihr wisst nichts von diesen guten Menschen.Und ich diene niemandem außer Gott und der Heiligen Jungfrau.«
    Er lächelte. »Und mir – heute Nacht.«
    »Nein«, sagte ich.
    »Oh, so viel selbstgerechte Entrüstung. Ihr glaubt, etwas gesehen zu haben, Braut Christi, aber Eure Wahrnehmung, in einer so engen und finsteren kleinen Welt gebildet, ist dieser Umgebung nicht gewachsen. Es ist nicht so, wie Ihr glaubt.« Mit einer herablassenden Geste entließ er Mutter und Sohn, die noch an der Tür standen.
    Als sie gegangen waren, sagte er: »Hagars Sohn ist in einem verheißungsvollen Alter, und ich suche mich seiner

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