Die Prophezeiung der Nonne: Roman (German Edition)
sich, dann erschlaffte ihr Körper. Blut strömte aus dem gefiederten Leib und tropfte schwer in die zweite Grube. Jetzt wusste ich, woher der Geruch kam: vom Fleisch und Blut geopferter Vögel.
»Nein, nein, nein«, schluchzte ich und versuchte, mich aus Gertrudes Umklammerung zu befreien. Doch sie ließ mich nicht los. Mir war, als wäre ich es, die da über der Grube in diesem uralten Gemäuer ausblutete.
Orobas warf den Kadaver zu Boden und hob beide Hände. Blut rann seine Arme hinunter. Er rief mit donnernder Stimme: »Ich beschwöre und rufe dich zum Zeugen an. Auf dass du in freundlicher Gestalt kommen mögest. Auf dass du keine Ruhe finden mögest, bis du zu mir kommst.« Er machte eine kurze Pause, dann sprach er die Worte ein zweites Mal.
Ich weiß nicht, wie oft er seine Beschwörungsformel wiederholte. Mir klopfte das Herz bis zum Hals. Furcht kämpfte mit Zweifel. Neben mir rang Gertrude keuchend nach Luft, während sie mich fest an sich gedrückt hielt.
Plötzlich erstarben die Worte auf Orobas’ Lippen, und sein Gesicht erschlaffte. Seine Knie knickten ein, und er sank in einer langsamen Drehung zu Boden. Gertrude eilte zu ihm. Sie kniete nieder und beugte sich über ihn.
»Ist er tot?«, fragte ich.
»Nein«, antwortete Gertrude, ohne mich anzusehen. »Aber dies ist der gefährlichste Augenblick. Es ist der Augenblick, da manche zu den Toten hinübergehen, anstatt sie auf unsere Seite zu ziehen.«
Die Zeit schien stehen zu bleiben. Ich konnte nicht umhin, mich zu fragen, ob es für uns – und auch die Welt draußen – nicht besser wäre, dieser Mann stürbe. Doch gleich schämte ich mich dieser Gedanken. Jeder Mensch hatte Erlösung verdient.
Neben Gertrude bewegte sich etwas. Auf eine Hand gestützt,richtete Orobas sich auf. Er versuchte nicht, auf die Beine zu kommen, sondern blieb auf dem Boden sitzen, gekrümmt, das Kinn auf der Brust. Sein bleiches Gesicht leuchtete im Kerzenlicht.
»Ethelrea?«, flüsterte Gertrude.
»Wer hat mich gerufen?«, fragte Orobas. Seine Stimme hatte sich verändert. Sie war immer noch tief und rau, aber gedämpft und ohne eine Spur von Verachtung.
»Ich. Ich bin Gertrude Courtenay.«
Orobas hob den Kopf. Seine Schultern waren gekrümmt, seine Gesichtszüge wie verwischt. Sein Blick suchte Gertrude. »Ich sehe dich«, sagte er. »Ich habe schon mit dir gesprochen. Warum rufst du mich von Neuem?«
Gertrude winkte mir, näher zu kommen. »Ich habe die andere mitgebracht«, sagte sie. »Die Braut Christi.«
Ich rührte mich nicht. Orobas drehte den Kopf nach links und nach rechts. Er hielt inne, als seine stumpfen grauen Augen mich gefunden hatten. »Ich sehe sie. Sie muss näher kommen.«
Wieder winkte mir Gertrude.
Nichts als Schwindel, sagte ich mir. Orobas gibt sich als Geist einer toten sächsischen Nonne aus, um Gertrude möglichst viel Geld aus der Tasche zu ziehen. Ich tue einfach so, als glaubte ich den Zauber, und dann gehen wir.
Ich trat zu ihnen und kniete an Gertrudes Seite nieder. Er musterte mich aufmerksam, dann schüttelte er den Kopf. Wie ein schmollendes Kind schob er die Unterlippe vor. Es war eine gute Vorstellung, dachte ich, aber nur das – eine Vorstellung.
»Sie ist keine Braut Christi«, sagte Orobas. »Ich sehe keinen Habit und keinen Schleier.«
»Sie wurden ihr genommen«, erklärte Gertrude. »Ihr Kloster, das Dominikanerinnenkloster in Dartford, ist aufgelöst worden.«
Orobas hob den Kopf. Einen Moment lang verdrehten sich seine Augäpfel. Gertrude presste ihre Hand auf mein Knie.
»Ja«, sagte er. »Alle Klöster – weggefegt. Es ist ein Jammer.«
»Aber werden sie wiederhergestellt werden?«, fragte Gertrude. »Wenn der wahre Glaube zurückkehrt, werden die Klöster dann wieder in ihre Rechte eingesetzt werden?«
Orobas schüttelte den Kopf. »Mit dir will ich nicht sprechen. Nur mit ihr. Ich will heute Nacht von Dartford sprechen.« Er wandte sich mir zu. Ich rückte ein wenig näher.
»Mein Vater hatte einen Hof in der Nähe von Middlebrook«, sagte er. »Wir hatten ein Haus. Er hat es mit seinen eigenen Händen gebaut. Es stand auf einem Hügel. Vom Fenster aus konnte ich den in drei Arme geteilten Fluss sehen.«
Ein kalter Schauder rann mir den Nacken hinunter und setzte sich prickelnd bis in meine Finger fort. Aber ich weigerte mich immer noch zu glauben. Jeder konnte sich die nötigen Kenntnisse aneignen, um die Landschaft um Dartford zu beschreiben.
»Warum habt Ihr den Schleier genommen?«, fragte
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