Die Prophezeiung der Nonne: Roman (German Edition)
»Es dient niemandem, wenn Ihr Euch Eurer Kräfte beraubt.«
»Sagt mir einfach, was jetzt auf mich zukommt, Gertrude.«
Sie trat zwei Schritte näher zu mir. »Orobas ist einer der begnadetsten Seher in ganz England – was sage ich, in der ganzen christlichen Welt. Er kennt die alten Riten, die andere vergessen haben. Um aber seine Gabe in vollem Maß nutzen zu können, muss er hierherkommen.«
Ich schaute mich ungläubig in der Schenke um.
»Joanna«, fuhr sie fort, »gleich gehen wir in ein uraltes Gelass hinunter, das tief unter dieser Schenke liegt. Es war in alter Zeit eine Krypta, ein Ruheplatz der Toten.«
»Wir gehen in eine Krypta ?« Mir schnappte die Stimme über.
»Nur wenn gewisse Bedingungen erfüllt sind, kann Orobas einen Blick in die Zukunft werfen.« Gertrude zögerte, unsicher, so schien es, wie sie mir das Kommende möglichst schonend beibringen konnte.
»Orobas braucht die direkte Verbindung«, sagte sie schließlich. »Die Verbindung mit den Toten.«
Nekromantie . Meine Knie gaben nach, ich sank zu Boden.
»Christus, vergib mir, bitte vergib mir«, flüsterte ich.
»Orobas glaubt, dass wir heute Nacht sehr klar sehen werden«, erklärte Gertrude, entschlossen, so zu tun, als läge ich nicht auf den Knien im Schmutz dieser elenden Schenke. »Wir werden erfahren, was auf uns wartet, wie lange der König herrschen wird und wie wir dem, der nachkommt, den Weg bereiten können.«
Ich faltete die Hände vor der Brust und schloss die Augen. »Herr, erbarme dich unser. Christus, erbarme dich unser«, betete ich.
Eine Holzdiele knarrte. Gertrude konnte das Geräusch nicht verursacht haben, sie hatte sich nicht von der Stelle gerührt. Ich schluckte und zwang mich, in meinem Gebet fortzufahren.
Wieder dieses Knarren. Und gleich darauf das Geräusch sich nähernder Schritte. Es konnte keinen Zweifel geben, jetzt befanden sich drei Menschen in diesem Raum.
Ich brach mein Gebet ab und öffnete die Augen. Dicht vor mir bauschten sich rostrote Taftröcke. Als ich aufstand, sah ich eine Frau vor mir stehen. Ihr Mieder war tief ausgeschnitten, beinahe so tief wie das der Frau aus der Spielhölle. Langes braunes Haar fiel ihr lose auf die Schultern, obwohl sie kein Mädchen mehr war. Sie musste um die dreißig sein. Ihre Augen brannten vor Erregung. Es war dieselbe Art von Erregung, wie ich sie in Gertrudes Blick gesehen hatte, nur noch heißer.
»Ihr habt also die Braut Christi mitgebracht, und dies genau zur verabredeten Zeit«, sagte sie. »Er wird zufrieden sein.«
»Ja«, antwortete Gertrude. »Ich habe alles getan wie gefordert.«
Der Blick der Frau wich keine Sekunde von meinem Gesicht. Sie knickste lächelnd.
»Mein Name ist Hagar«, sagte sie. »Willkommen in Londinium.«
Kapitel 17
Hagar ergriff eine Kerze und wandte sich von uns ab. Hinter dem Schanktisch, in der hintersten Ecke, stieß sie eine Tür auf und trat in einen schmalen Gang. Gertrude versetzte mir einen leichten Stoß zum Zeichen, dass ich folgen sollte.
Zehn Schritte den Gang hinunter wartete eine weitere Tür, hinter der sich ein kleiner Vorratsraum befand. Leere Fässer reihten sich auf einem Bord, und gegenüber stand ein von faulendem Gemüse – Kohl, Karotten, Lauch – überquellender Bottich, über dem Trauben winziger Fliegen hingen.
In der Mitte der Kammer kauerte Hagar nieder, fand nach kurzem Suchen eine Kette und riss mit beiden Händen kräftig daran. Eine Falltür klapperte, die sie im Aufstehen mit sich in die Höhe zog. Ich konnte eine Treppe ausmachen, die steil abwärts führte. Hagar ging voraus.
Gertrude schob mich vorwärts. »Jetzt Ihr.«
Die oberen Stufen waren ausgetreten und schief. Nach zwei Schritten blieb ich stehen. Keinesfalls wollte ich mich an Hagar festhalten. Mir tat der Kopf weh, ob vor Durst oder Müdigkeit, konnte ich nicht sagen. Ich rieb mir die Augen. Der helle Schein von Hagars Kerze blendete mich.
»Lasst Euch von diesem Ort erzählen, Braut Christi«, sagte Hagar, die einige Stufen weiter unten ebenfalls stehen geblieben war, um auf mich zu warten. »In der Stadt London gibt es Orte, zu denen Menschen zu bestimmten Zwecken immer wieder hingezogen werden. Kelten, Römer, Sachsen, Normannen, sie alle haben diesen Boden gesucht, Jahrhundert auf Jahrhundert. Und wisst Ihr, warum?«
»Nein«, antwortete ich.
»Das Streben nach Recht und Gerechtigkeit ist es, das sie immer wieder an diesen Ort zieht«, erklärte Hagar. »Heute sitzen in Guildhall Richter und Advokaten und
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