Die Prophezeiung der Nonne: Roman (German Edition)
Kräfte zu bedienen, mehr nicht. In der Antike vermochten nur Knaben wie er aus einer Schale voll schillernder Flüssigkeit die Zeichen der Zukunft zu lesen.«
»Deswegen sind wir hier«, sagte Gertrude ungeduldig. »Um zu hören, was die Zukunft bringt.«
Er nickte. »Und Ihr sollt bekommen, was Ihr wünscht. Die Konstellation ist jetzt vollkommen für einen ungetrübten Blick. Die Mägde Christi, jene zwei, die den Schleier nahmen, um ein Leben in Keuschheit zu führen, treffen hier, in einem Heiligtum der Diana, zusammen.«
Ich war nicht sicher, dass ich ihn richtig verstanden hatte. »Gertrude war niemals im Kloster«, sagte ich.
Orobas trat zu dem steinernen Sarg. »Aber sie.« Mit einer Geste, die etwas berührend Zärtliches hatte, breitete er die Hände über dem Sarkophag aus. »Mein Mädchen, das mir das Liebste war. Ethelrea. Sie hatte so gar keine Ähnlichkeit mit Euch, und doch war sie eine Zeit lang das Gleiche wie Ihr: eine Nonne in Dartford.«
»Das ist ausgeschlossen«, protestierte ich. »Hier kann keine Nonne aus Dartford begraben sein.«
»Und warum nicht?« Den haarlosen Schädel schräg geneigt, sah er mich an.
»Dieser Raum wurde von den Römern gebaut, und sie sindvor mehr als tausend Jahren aus dem Land verschwunden. Mein Kloster wurde vor zweihundert Jahren gegründet.«
Er beugte sich ein wenig vornüber und strich mit den Fingern über den Steinsarg. »Das ist keine Gruft der Römer, sondern der Sachsen. Als sie London erobert hatten, bestand das Amphitheater noch und ebenso dieses Heiligtum. Sie nutzten es. Praktische Leute, diese Sachsen. Aus dem Heiligtum wurde eine Grabstätte für ein siebzehnjähriges Mädchen.«
»Sie war eine sächsische Nonne?«, fragte ich erstaunt. Und dann erinnerte ich mich an das Nonnenkloster auf dem Hügel, Hunderte von Jahren erbaut, bevor Eduard III. ein Kloster für die Dominikanerinnen gegründet hatte. Nichts als die Grundmauern waren von ihm geblieben. Das erste Kloster war im 8. Jahrhundert niedergebrannt, als feindliche Wikinger es angegriffen hatten. »Der Orden der heiligen Juliana«, flüsterte ich.
»Ihr seid nicht dumm.« Er schritt zu den beiden Pfeilern auf der anderen Seite des Raums. »Eine Seltenheit bei Frauen.«
Ohne seine beleidigenden Worte zu beachten, sagte ich: »Ich glaube es trotzdem nicht. Gewiss, zu Zeiten der Sachsen lebten Nonnen in Dartford, aber warum sollte eine von ihnen hier in London begraben sein? In einem Heiligtum, das einer römischen Göttin geweiht war.«
Mit drei kleinen Urnen im Arm kehrte Orobas zu dem Steinsarg zurück. Er stellte sie vorsichtig nieder, eine neben die andere.
Ich fühlte mich aufgerufen, diese Tote zu schützen. »Wenn Ihr wahr sprecht und die Frau in diesem Sarg einst eine Nonne war, dann dürft Ihr ihre sterblichen Überreste nicht mit nekromantischen Possen entweihen.«
Mit einem Ruck hob er den Kopf. »Ich mag dieses Wort nicht. Nekromanten sind Narren. Kindern Fingernägel abzuschneiden, um mit ihrer Hilfe den Geist herbeizurufen, der den vergrabenen Schatz findet – ha! Oder einem Totenschädel einen Spiegel vorzuhalten und ihm Fragen zu stellen. Ich bin kein Gaukler. Das Ritual, das ich hier vollziehe, ist zehntausend Jahre alt.«
Gertrude zog mich am Arm. »Haltet Euch zurück, Joanna«, drängte sie.
Ich schüttelte ihre Hand ab. »Wie soll ich Euch dann nennen?«, fuhr ich fort. »Abgesehen von dem Namen des Höllenprinzen, den Ihr angenommen habt.«
»Ich habe den Namen Orobas aus demselben Grund angenommen, aus dem ein Lump namens Giulio de’ Medici sich den Namen Clemens VII. zugelegt hat, nachdem er sich die Wahl zum Papst erschwindelt hatte«, gab er mit einem Schulterzucken zurück. »Es ist gut fürs Geschäft.«
Im ersten Augenblick war ich empört über diese Respektlosigkeit dem Heiligen Vater gegenüber. Dann jedoch sagte ich mir: Er gibt praktisch zu, dass er ein Scharlatan ist. Meine Angst vor der bevorstehenden Handlung ließ nach.
»Um auf Eure Frage zu antworten: Ich bin ein Seelenbeschwörer«, sagte er. »Wir können beginnen, sobald Ihr beide Euer Haar gelöst habt.«
Ich war sicher, dass er kein Seelenbeschwörer war. Kalte Wut auf Gertrude packte mich, dass sie mich zwang, an diesem frevlerischen Treiben teilzunehmen. Ich hatte nur einen Wunsch: es hinter mich zu bringen. Obwohl ich es unerträglich fand, diesem Menschen mein Haar zu zeigen, nahm ich meine Kapuze ab und löste meine Zöpfe, wie Gertrude. Im Kerzenlicht leuchteten die weißen
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