Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Prophezeiung der Nonne: Roman (German Edition)

Die Prophezeiung der Nonne: Roman (German Edition)

Titel: Die Prophezeiung der Nonne: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nancy Bilyeau
Vom Netzwerk:
Strähnen in ihren schwarzen Haaren auf. Meine eigenen Haare waren nachgewachsen, seit sie im Kloster abgeschnitten worden waren, und reichten mir jetzt bis zu den Schultern.
    Orobas tauchte seine Finger in die erste Urne und ging langsam im Kreis um die flache Grube herum, die uns am nächsten war. Bei jedem zweiten Schritt spritzte er einige Tropfen Flüssigkeit auf den Boden der Gruft. Konnte dies die Quelle des Blutgeruchs  sein, bei dem sich mir immer noch der Magen umdrehte?
    »Es ist Wasser«, hauchte Gertrude, und ich nickte erleichtert.
    In eintönigem Singsang intonierte Orobas: »Himmlischer Sohn des Laertes, noch einmal musst du die Reise antreten undhinuntersteigen in das Reich des Hades und der gefürchteten Persephone, um den blinden Seher von Theben zu befragen – «
    »Das ist Homer – die Odyssee «, warf ich ein.
    Orobas sah mich an. Er war so erstaunt über mein Wissen wie zuvor Gertrudes Arzt, aber er verbarg es schneller. »Man hat Euch also die alten Sagen gelehrt«, sagte er leise. Er stellte eine Urne nieder und ergriff die nächste. »Die großen Philosophen Griechenlands und Roms wussten, dass die Toten immer in unserer Nähe sind. Sie haben mit ihnen gesprochen, genau wie Odysseus. Die meisten Toten wissen nichts, das ist die Schwierigkeit. Sie sehen und hören sehr wenig. Es gibt jedoch einige wenige, die, wenn die Seele den Körper abgestreift hat, sehr viel darüber wissen, was geschehen ist und was kommen wird.«
    Wieder begann er, im Kreis zu gehen und den Boden mit etwas aus der zweiten Urne zu beträufeln. Nicht mit Wasser diesmal, sondern mit einer weißen Flüssigkeit, die aussah wie Milch.
    »Wenn wir erfahren wollen, was sie wissen, müssen die Toten den Lebenden und die Lebenden den Toten näher gebracht werden«, erklärte er. »Ihr werdet verstehen, dass das ein äußerst gefährliches Wagnis ist. Es verlangt die Könnerschaft eines Meisters, wie ich es bin.«
    Abgestoßen von seiner Überheblichkeit bemerkte ich: »Schwester Elizabeth Barton brauchte keine Toten zu beschwören.«
    Orobas hatte seinen zweiten Rundgang beendet. Er hob die dritte Urne auf. »Eure erste Seherin war von anderer Art. Sie verfügte über eine echte Sehergabe, aber sie war ungeübt. Sie beging Fehler bei der Auslegung – immer ein Risiko in unserer Welt. Und Ihr habt beide gesehen, wie sie wegen ihrer Visionen leiden musste.«
    »Warum habt Ihr ihr nicht geholfen?« Gertrudes Ton klang entrüstet.
    Er lächelte. »Um mich damit den Leuten des Königs preiszugeben? Bin ich ein Narr? Von dem Tag an, als sie sich das erste Mal öffentlich gegen die Scheidung des Königs aussprach, wurde sieaufs Schärfste beobachtet. Das solltet Ihr eigentlich wissen, Marquise.«
    Die Flüssigkeit, die er diesmal bei seinem Rundgang verteilte, war tiefdunkel. Ich erhaschte einen Hauch ihres Geruchs – ein voller, süßer Wein.
    »Jetzt tretet beide in diesen Teil der Gruft«, befahl er und winkte uns zu der ferner gelegenen Grube. Gertrude drückte meinen Arm, eine Geste der Unterstützung und der Warnung zugleich.
    Orobas hob einen großen zylindrischen Gegenstand auf, der mit einem Tuch verhüllt war. Es war keine Urne. Er stellte ihn auf der anderen Seite der Grube nieder. Hier war der faulige Geruch am stärksten, doch ich konnte die Ursache nicht erkennen. Die Kerzen standen weit entfernt; die Grube war finster.
    Mit einer schnellen Bewegung riss er das Tuch weg. Darunter hatte sich ein hölzerner Käfig verborgen. Auf seinem Boden lag reglos ein kleines Tier. Ich war gewiss, dass es tot war, doch dann hörte ich matten Flügelschlag. Ein Vogel.
    »Was tut Ihr da?«, rief ich entsetzt. Er antwortete nicht, sah mich nicht einmal an, sondern öffnete den Käfig und nahm einen grauen Vogel mit langen Schwanzfedern heraus, eine Schwalbe, deren Kopf mit einer Haube verhüllt war. Unter der Hand von Orobas begann das arme Geschöpf angstvoll mit den Flügeln zu schlagen.
    Er packte den Vogel mit einer Hand fest um den Hals, sodass er nicht nach ihm hacken konnte, und zog mit der andern ein langes Messer aus seinem Gewand.
    »Aufhören«, schrie ich. Alles in mir wehrte sich dagegen, dieses grausame heidnische Ritual mit ansehen zu müssen. Gertrude warf beide Arme um mich und hielt mich fest. »Er muss das Opfer darbringen, Joanna«, sagte sie. »Ohne es kann die Seele weder sehen noch sprechen.«
    Orobas stieß das Messer tief in die Brust der kleinen Schwalbe.

Kapitel 18
    Die Schwalbe gab einen leisen Laut von

Weitere Kostenlose Bücher