Die Prophezeiung der Nonne: Roman (German Edition)
regte Orobas eines seiner Glieder. Er hob den rechten Arm und zeigte auf mich. »Du besitzt den Schlüssel. Du wirst den Weg bestimmen, den die Zukunft nehmen wird.«
»Wie denn?«, rief ich. »Das ist unmöglich.«
Immer noch hielt Orobas seinen ausgestreckten Arm auf michgerichtet. »Wenn der Rabe das Seil erklimmt, muss der Hund sich in die Lüfte erheben wie der Falke.«
Ich bedeckte meine Augen mit den Händen. Es war kaum zu ertragen, aus seinem Mund die Worte Schwester Elizabeth Bartons zu vernehmen, die ich streng in meinem Inneren bewahrt hatte.
»Baut auf den Bären, wenn ihr den Stier schwächen wollt«, sagte er dann. »Baut auf den Bären, wenn ihr den Stier schwächen wollt.«
Diesen Spruch hatte ich noch nicht gehört. Ein Rat, der mir nichts sagte.
»Ich weiß nicht, was ich tun soll«, rief ich verzweifelt. »Ich kann nicht über die Zukunft entscheiden. Eure Worte sagen mir nichts. Sie sind so sinnlos wie die von Schwester Elizabeth.«
»Der dritte Seher wird dir sagen, was du tun musst«, erwiderte Orobas mit matter Stimme. »Es ist vorbei.« Seine Lider flatterten, der Schweiß rann ihm von der Stirn in die Augen.
»Wartet.« Gertrude drängte sich wieder nach vorn. »Ihr habt einen Kardinal und einen Bischof an der Seite von Königin Maria gesehen. Aber was ist mit meinem Gemahl? Und meinem Sohn? Was wird aus den Courtenays?«
»Lasst mich, lasst mich«, sagte Orobas.
»Nein, sagt es mir«, herrschte sie ihn an. »Ihr müsst es mir sagen. Ich bezahle Euch mehr. Alles, was Ihr wollt.«
»Ach, armer Henry Courtenay«, seufzte er schließlich. »Der Tag der Abrechnung wird kommen.«
Furcht schüttelte mich. Das waren die Worte, die der verrückte John uns nachgeschrien hatte, als ich mit den Courtenays aus Dartford hinausgeritten war.
»Warum sagt Ihr das?« Gertrude war außer sich. »Warum?«
Dicker Speichel quoll aus Orobas’ Mund. Er sank in sich zusammen und sprach nichts mehr.
Kapitel 19
Eine Zeit der Marter begann für mich. War Orobas echt – konnte er wirklich in die Welt der Schatten eintauchen und mit einer lang verstorbenen sächsischen Nonne, die in die Zukunft sehen konnte, Verbindung aufnehmen? Auf den ersten Blick erschien die Vorstellung sowohl gotteslästerlich als auch absurd. Doch wenn ich daran dachte, wie er den Fluss beschrieben hatte, der sich durch Dartford wand, wie er dem Seelenaufruhr einer fast noch kindlichen Nonne Ausdruck verliehen hatte, sagte mir eine Stimme, dass ich die Wahrheit gehört hatte. Und er hatte die gleiche Prophezeiung ausgesprochen wie Schwester Elizabeth Barton. Das zwang mich, der Tatsache ins Auge zu sehen, dass ich in der Tat bei der zukünftigen Entwicklung unseres Königreichs eine entscheidende Rolle zu spielen hatte. Mein Handeln in einem bestimmten Moment würde das Leben aller verändern. Ich fürchtete mich vor dieser ungeheuren Verantwortung jetzt genauso heftig wie damals, als ich an der Seite der sich in Krämpfen windenden Nonne gekniet hatte.
Stumm vor Erschöpfung ritten Gertrude und ich in Begleitung der Zwillingsbrüder und der anderen Männer nach Hause. Es begann schon zu dämmern, als wir die Suffolk Lane erreichten.
Gertrude sagte leise: »Ich werde Wort halten, Joanna. Ich reise mit Henry in den Westen. Er darf nie erfahren, was sich heute Nacht abgespielt hat.«
Ich nickte. »Und ich reise mit Arthur nach Dartford zurück und suche die Stille.«
Doch vorher musste ich noch das Festmahl Henry Courtenays für seinen Freund Montague über mich ergehen lassen. Henry selbst holte mich in meinem Zimmer ab, als zwei Abende später die Stunde heranrückte. Ich sah ihn zum ersten Mal wieder, seit er mich gebeten hatte, über seine Frau zu wachen. Lächelnd bot er mir den Arm. »Ich begleite Euch hinunter, Joanna.«
Auf dem Weg zum Rittersaal redeten wir über Belanglosigkeiten,bis Henry mit einem kurzen Blick zu den Dienern, die sich dicht hinter uns hielten, fragte: »Es war also alles ruhig, während ich weg war?«
Ich hatte auf die Frage gewartet. »Ja«, antwortete ich kaltblütig.
Ich hörte ihn erleichtert aufatmen. Er bedrängte mich nicht mit weiteren Fragen, und das machte mich beinahe schwanken. Ich war nahe daran, ihn in den Alkoven an der Treppe zu ziehen, um ihm fern der Diener zu berichten, was zwei Nächte zuvor geschehen war, und ihn zu beschwören, London so schnell wie möglich zu verlassen – sofort, noch an diesem Abend.
Der Tag der Abrechnung wird kommen.
»Ah, sie haben alle Leuchter
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