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Die Prophezeiung der Schwestern - 1

Die Prophezeiung der Schwestern - 1

Titel: Die Prophezeiung der Schwestern - 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Zink
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nicht rechtzeitig gefunden?«
    Sie seufzt, als müsse sie einem kleinen Kind eine einfache Tatsache erklären. »Der Rahmen war leer, bis auf
das Foto unserer lieben Mutter.« Aus ihren Worten tropft Sarkasmus. »Ich wusste, dass die Liste dort gewesen war, also nahm ich an, dass du sie gefunden und irgendwo versteckt hast.«
    Ich schaue sie an und weiß nicht, was ich sagen soll. Mein Zorn ist verflogen. Stattdessen fühle ich eine tiefe und beunruhigende Verwirrung. Wenn ich die Liste nicht habe … und Alice die Wahrheit sagt …
    Wer sonst würde aus einem solch dunklen und gefährlichen Geheimnis einen Nutzen ziehen?
     
     
    Der Engel, bewacht nur durch einen zarten Schleier …
    … zart und von dieser Welt, leicht zu zerreißen … Ich schlage die Augen auf. Die Worte flüstern weiter zu mir, in einem Winkel meines Bewusstseins. Ich schlief tief und fest, mit Träumen, die - das spüre ich - ausnahmsweise nicht mehr waren als … Träume. Als ich erwache, habe ich immer noch nicht die Antwort gefunden, die ich brauche, nur diese vertrauten Worte, die in meinem Geist widerhallen.
    Der Engel, bewacht nur durch einen zarten Schleier.
    Bewacht nur durch …
    … einen zarten Schleier.
    Bewacht …
    Schleier …
    Die Worte wiederholen sich, als würde ich einer von Vaters Grammofon-Platten lauschen, die einen Kratzer hat.

    Als ob jemand mir etwas mitteilen will.
    Und dann höre ich Vaters verzerrte Worte, die er über die Welten hinweg zu mir spricht: Henry ist alles, was vom Schleier übrig …
    Und ganz plötzlich weiß ich, was das bedeutet.

30
     
     
     
     
    I m Sturmschritt rase ich die Treppe hinunter. Der Lärm, den ich dabei veranstalte, muss gewaltig sein, denn Luisa und Sonia stürzten erschrocken aus dem Esszimmer.
    Sonia hält eine Serviette in der Hand und starrt mich entgeistert an. »Lia! Was ist denn…?«
    »Tante Virginia!« Meine Stimme hallt durch das ganze Haus, während sich die Verzweiflung immer tiefer in meine Knochen gräbt.
    Luisa und Sonia können sich auf mein polterndes Benehmen keinen Reim machen. Sie stehen mit offenen Mündern da.
    Das Klappern von Absätzen auf dem Marmorboden lässt mich herumwirbeln. Erleichterung überkommt mich und verlässt mich kurz darauf wieder, als ich sehe, dass es nicht meine Tante ist, sondern Margaret, die mich anschaut, als sei ich übergeschnappt, weil ich wie ein kleines Kind durchs Haus brülle.

    »Warum schreien Sie denn so, Miss Milthorpe?«
    »Es … es tut mir leid, Margaret. Ich muss sofort mit meiner Tante sprechen. Haben Sie sie gesehen?« Das Beben in meiner Stimme verrät meine Angst.
    Sie lächelt. »Aber sicher, meine Liebe. Sie ist oben. Im Bett.«
    »Im Bett?« Margaret hätte genauso gut behaupten können, Tante Virginia würde die Ställe ausmisten, so unwahrscheinlich ist die Aussage, dass sie am helllichten Tag im Bett liegt.
    »Ja. Im Bett. Sie fühlt sich nicht wohl. Sie ist in letzter Zeit ungewöhnlich müde, und ich habe sie ins Bett geschickt, damit sie sich ausruhen kann. Nichts, worüber Sie sich Sorgen machen müssten. Nur ein bisschen schwach auf den Beinen.« Sie schenkt mir ein Lächeln, als ob sie allein dadurch den Aufruhr besänftigen könnte, der mein Blut zum Kochen bringt. »Sie können später nach ihr sehen, meine Liebe. Wenn sie ein bisschen geschlafen hat. Dann ist sie sicher wieder so munter wie ein Vögelchen.«
    Ich nicke und denke an Tante Virginias erschöpftes Gesicht, nachdem sie mir in den Anderswelten zu Hilfe kam. Ich spähe ins Wohnzimmer und sehe, dass es leer ist. »Margaret?«
    »Ja, Miss?«
    »Wo sind Henry und Alice?«
    Unsicherheit huscht über ihre normalerweise stoischen Züge. »Nun, das ist eine Sache, die ich mit Miss Spencer besprechen wollte…«

    Ich hebe die Augenbrauen. »Vielleicht sollten Sie das mit mir besprechen.«
    Nervös verlagert sie ihr Gewicht von einem Fuß auf den anderen. Ich glaube, das ist das erste Mal, dass ich mich wahrhaftig wie die Herrin in meinem eigenen Haus fühle. »Nun, Miss… Alice hat Henry mit zum Fluss genommen.«
    Meine Kinnlade klappt herunter, als ich aus dem Fenster auf den stahlgrauen Himmel schaue. »Zum Fluss? Jetzt? Aber es sieht so aus, als würde es jeden Moment in Strömen gießen, Margaret!«
    Sie hat zumindest den Anstand, ein zerknirschtes Gesicht aufzusetzen. »Ich wollte mit Miss Spencer darüber reden, aber sie fühlte sich nicht wohl, und so …« Sie verstummt und schaut dann zur Seite.
    »Aber wie konnten Sie das zulassen?

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