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Die Prophezeiung der Schwestern - 1

Die Prophezeiung der Schwestern - 1

Titel: Die Prophezeiung der Schwestern - 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Zink
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du getan und gesehen hast, zu verarbeiten. Lass ihm einen Moment Zeit, in die Körperlichkeit zurückzukehren. Schau mich an, Lia. Und nicke, wenn du mich verstanden hast.« Ihre Stimme klingt fast grob.
    Ich fühle mich plötzlich wie ein Kind, aber in der Bestimmtheit ihres Befehls liegt Sicherheit, Geborgenheit, und so schaue ich ihr in die Augen und nicke leicht.
    »Gut. Jetzt bleib ruhig. Einfach nur ruhig bleiben und atmen.«
    Ich überlasse mich ganz der Hilflosigkeit meines Körpers. Die Furcht in Luisas Augen überträgt sich auf mich, und so vermeide ich es, sie anzuschauen. Stattdessen blicke ich wieder zu Sonia, in ihre tiefen blauen Augen, bis ich wieder normal atmen kann.
    Ich prüfe die Beweglichkeit meiner Finger, befehle ihnen, sich zu bewegen, und bin glücklich, als sie den Anweisungen folgen. Ich unterziehe meinen ganzen Körper der gleichen Prüfung, bis ich sicher bin, dass alles wieder funktioniert. Erst dann bemühe ich mich zu sprechen. Sonia
und Luisa halten den Atem an, als ich unbeholfen Worte forme.
    »S…s…sein Z…Zimmer. Die… Liste ist in… seinem Z…Zimmer. Hinter dem Bild … meiner Mutter.«

29
     
     
     
     
    B ist du ganz sicher?« Luisa reicht mir den Rahmen mit dem Foto meiner Mutter, nachdem sie ihn aus Vaters Zimmer geholt hat. Mich hat man gezwungen, auf dem Sofa liegen zu bleiben, da laut Sonia Schwächeanfälle einer der unangenehmen Nebeneffekte einer solch langen und schwierigen Reise mit den Schwingen sind. Als ob das nicht genug wäre, habe ich hämmernde Kopfschmerzen, die mich das qualvolle Leben, das Sonia als Spiritistin führt, in einem ganz anderen Licht sehen lassen. Obwohl niemand es ausspricht, verrät uns doch die Dunkelheit jenseits der Fenster, dass uns nicht mehr viel Zeit bleibt. Schon bald wird Tante Virginia mit Alice und Henry zurückkehren.
    »Nicht ganz, aber so sicher, wie es unter den gegebenen Umständen nur möglich ist.«
    Ich starre in das Gesicht meiner Mutter. Ihre Augen sind selbst auf der Fotografie noch ungeheuer ausdrucksvoll.
Ich erinnere mich an ihr Strahlen bei unserer Begegnung in den Anderswelten.
    »Möchtest du, dass ich es mache?«, fragt mich Sonia rücksichtsvoll.
    Ich schüttele den Kopf. »Nein, ich will es tun.«
    Ich drehe den Rahmen um und lege ihn mit der Vorderseite nach unten auf meinen Schoß. Die dünnen Metallklammern auf der Rückseite lassen sich leicht lösen, sodass ich die rückwärtige Holzplatte abheben kann. Zuerst glaube ich, dass dort gar nichts ist. Ich sehe die Rückseite des Fotos und will es schon von der Glasplatte heben, als mir etwas in der Ecke des Rahmens, zwischen dem Glas und der Metallverzierung, ins Auge fällt.
    Ich halte mir den Rahmen dicht vor die Augen. Luisa kann nicht mehr an sich halten: »Was ist? Ist die Liste da?«
    »Ich bin mir nicht sicher…« Aber im selben Moment erkenne ich, dass da tatsächlich etwas ist. Ich zupfe es aus der Ecke des Bilderrahmens, obwohl ich nicht sagen kann, ob mir die Finger dabei vor Aufregung, Angst oder wegen meiner jüngst überstandenen Reise in die Anderswelten zittern.
    »Aber… es ist so klein!«, ruft Sonia auf. »Das kann unmöglich die Liste sein.«
    Es ist nur ein Schnipsel, ein winziges Stückchen Papier, das wohl von einem größeren Blatt abgerissen ist. Ich bin enttäuscht, aber nicht annähernd so enttäuscht, wie ich hätte sein sollen. Bislang waren wir der Liste noch nie so
nah wie jetzt. Obwohl sie sich nicht länger hinter dem Foto meiner Mutter befindet, wo mein Vater sie versteckte, bin ich sicher, dass sie hier war.
    Sonia und Luisa sind genauso still wie ich. Die gehobene Stimmung ist verflogen und bedrücktes Schweigen macht sich breit, nur durchbrochen von unserem leisen Atem. Schließlich bin ich diejenige, die in das Schweigen hineinspricht, nur ein einziges Wort, das sich schwer über den Raum legt.
    » Alice .«
     
    In meinem Zimmer gehe ich auf und ab und versuche, mich zu sammeln, ehe ich Alice mit ihrem Diebstahl konfrontiere. In der Hektik, mit der die Ausflügler heimkehrten, hatte ich dazu keine Gelegenheit. Tante Virginia und Henry zeigten stolz ihre Einkäufe und erzählten, was sie heute erlebt hatten. Es blieb nur Zeit für einen kurzen, glühenden Blickwechsel mit Alice, ehe sie sich in ihr Zimmer zurückzog. Das Abendessen, das folgte, verlief angespannt. Es war ein üppiges Festmahl, obwohl das Erntedankfest vorbei ist. Aber immerhin haben wir Gäste im Haus.
    Luisa und Sonia boten an, mich zu dem

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