Die Prophezeiung der Schwestern - 1
Sorrensen. Was sind wir Ihnen schuldig?«
Sonia schüttelt den Kopf, sodass die blonden Locken hin und her fliegen. »Nichts … Nur … Bitte gehen Sie.«
Alice zieht mich zur Tür. Victoria braucht keine Aufforderung; sie hat den Raum bereits verlassen. Luisa wartet, bis Alice und ich gegangen sind. Ich höre ihre Schritte hinter mir und merke, wie mir der Klang Trost spendet.
Ich weiß kaum, wie mir geschieht, als Alice mich die Treppe hinunterführt, an Mrs Millburn vorbei und zur Haustür hinaus. Nur verschwommen bin ich mir der Leiber bewusst und der Röcke, die mich streifen, als Victoria und Luisa an mir vorbeigehen. Unser Gang durch die Straße in unbehaglichem Schweigen kommt mir wie ein Traum vor.
Die Kühle des Nachmittags, verbunden mit der Angst, dass man unsere Abwesenheit im Buchladen möglicherweise bemerkt hat, sollte genug sein, um mich wieder in die Wirklichkeit zurückzubringen. Aber aus irgendeinem Grund ist es das nicht. Die Unsicherheit und das Misstrauen, das ich meiner Schwester gegenüber empfand, ist vergessen, während sie mich wie ein kleines Kind an der Hand durch die Straßen zieht. Victoria geht ein paar Schritte voraus,
während Luisa neben uns hertrottet. Keine von uns sagt ein Wort.
Als Mr Douglas’ Laden in Sicht kommt, sehe ich Miss Gray, die davorsteht und heftig auf James und Mrs Bacon einredet. Dann, wie auf Kommando, wenden sie ihre Augen zu uns. Ich weiche Miss Grays Blick aus, vermeide den Moment, in dem ich erfahren muss, in welchen Schwierigkeiten wir stecken. Stattdessen konzentriere ich mich auf James. Unverwandt starre ich in sein Gesicht, in dem klar und deutlich die Sorge geschrieben steht, bis er das Einzige ist, was ich noch sehe.
6
S chweigend ziehen Alice und ich unsere Mäntel an.Die Standpauke von Miss Gray klingt uns noch immer in den Ohren. Luisas unglückliches Gesicht, als man sie auf ihr Zimmer schickte, steht mir noch vor Augen und macht jegliches Selbstmitleid unmöglich.
Nur Miss Grays Mitgefühl für unseren kürzlich erlittenen Verlust erspart uns einen offiziellen Tadel, der postwendend schriftlich an Tante Virginia gegangen wäre. Als wir die Tür von Wycliffe hinter uns zuziehen, ist es schon kurz vor Unterrichtsschluss, und Edmund wartet bereits auf uns. Hochgewachsen steht er neben der Kutsche. Alice marschiert über den Gehsteig dorthin und macht es sich gerade im Dämmerlicht der Kutsche bequem, als ich hinter mir eine Stimme höre.
»Miss! Bitte entschuldigen Sie. Miss!«
Es dauert einen Moment, bis ich die Person ausmache, die zu der Stimme gehört. Sie ist so klein - nur ein Kind -,
dass ich mich zuerst umschaue und oberhalb ihres Kopfes suche, ehe ich erkenne, dass sie es ist, dieses kleine Mädchen, das mich anspricht.
»Ja?« Ich schaue zur Kutsche, aber Alice ist nicht zu sehen, und Edmund hat sich gerade gebückt und betastet konzentriert und mit beiden Händen eine der Speichen des Rads.
Das Mädchen kommt auf mich zu. Die goldfarbenen Löckchen schimmern und in ihrem Gang liegt eine Sicherheit, die sie älter erscheinen lässt, als sie vermutlich ist. Sie hat das Gesicht eines Engels, mit vollen rosigen Wangen.
»Sie haben etwas fallen gelassen, Miss.« Sie neigt den Kopf ein wenig und streckt die Hand aus. Ihre Finger sind zur Faust geballt, sodass der Gegenstand, den sie umschlossen hält, nicht zu erkennen ist.
»Oh nein. Ich glaube nicht.« Ich schaue an meinem Handgelenk herab, an dem meine kleine Tasche baumelt.
»Doch, Miss. Bestimmt.« Sie blickt mir geradewegs in die Augen, und was ich darin zu erkennen glaube, raubt mir den Atem. Mein Herz schlägt schnell und heftig in meiner Brust. Dann schaue ich genauer auf ihre kleine Hand und sehe die weißen Zacken eines kleinen Elfenbeinkamms zwischen den Fingern des Mädchens hervorschauen. Erleichtert stoße ich den Atem aus.
»Ach du meine Güte! Vielen Dank!« Ich strecke die Hand aus und nehme den Kamm entgegen.
»Nein, ich habe zu danken, Miss.« Ihre Augen verdunkeln sich und die Konturen ihres kleinen Gesichts werden
schärfer, während sie in einem Knicks versinkt, der genauso merkwürdig ist wie ihre Dankbarkeit. Sie dreht sich um und hüpft davon, wobei ihre Röcke hinter ihr her flattern. Ihr kindliches Summen wird schwächer, je weiter sie sich entfernt.
Alice beugt sich auf ihrem Sitz vor und ruft durch die offene Tür der Kutsche nach mir. »Was machst du da, Lia? Es ist eiskalt und die ganze Kälte zieht in die Kutsche.«
Ihre
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