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Die Prophezeiung der Schwestern - 1

Die Prophezeiung der Schwestern - 1

Titel: Die Prophezeiung der Schwestern - 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Zink
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Handgelenk zu entblößen, fühle ich ihre kühlen und trockenen Finger an meinen. »Ich muss um absolute Ruhe bitten. Ich weiß nie, was ich sehen oder hören werde. Ich unterwerfe mich dem Willen der Geister und manchmal wollen sie nicht zu mir kommen. Sie dürfen nicht sprechen, es sei denn, Sie werden direkt angesprochen.« Ihre Augenlider zucken und senken sich.
    Ich spähe in die Gesichter der Mädchen - verzerrt und beschattet - die sich um den Tisch versammelt haben. In ihnen sehe ich die Überbleibsel von Mädchen, die ich kenne, aber alle scheinen mir merkwürdig verändert. Sie alle sehen anders aus als im hellen Tageslicht. Da wir nichts weiter tun können, als Sonia anzustarren, schließen wir eine nach der anderen die Augen, ich als Letzte.
    Der Raum ist so vollständig von der Außenwelt abgeschottet, dass ich kein Geräusch wahrnehme - kein Hufgetrappel oder Rufe von der Straße unterhalb des Fensters, nicht einmal das Ticken der Uhr im Haus. Nur das flüsternde Ein- und Ausatmen von Sonia. Ich lasse mich in den Rhythmus fallen - ein, aus, ein, aus -, bis ich nicht mehr sicher bin, ob es ihr Atem ist, der die Sekunden und Minuten abzählt, oder mein eigener.

    »Oh!« Der Ruf bricht neben mir hervor und ich zucke zusammen. Meine Augen sind schlagartig offen und ich schaue in Sonias Gesicht. Auch sie hat die Augen geöffnet, aber es kommt mir so vor, als sei sie sehr weit weg. »Es ist jemand hier. Ein Besucher.« Sie schaut mich an. »Er ist Ihretwegen gekommen.«
    Alice schaut sich um und kräuselt die Nase. Einen Moment später rieche ich es auch. Pfeifentabak. Nur die Erinnerung daran, aber eine Erinnerung, die meine Seele nur zu gut kennt, egal was mir mein Verstand auch einreden will.
    »Er möchte Ihnen sagen, dass alles gut wird.« Eine Sekunde lang schließt Sonia die Augen, als ob sie versuchen würde, etwas zu sehen, das mit offenen Augen nicht wahrgenommen werden kann. »Er möchte Sie wissen lassen, dass …« Und da verstummt sie. Sie verstummt und reißt überrascht die Augen auf. Sie starrt mich an und wendet dann den Blick zu Alice. Dann wieder zu mir. Ihre Stimme ist ein Flüstern, voller Geheimnisse. »Pst … Sie wissen, dass Sie da sind.«
    Sie schüttelt den Kopf, murmelt wie zu sich selbst oder zu jemandem, der ganz nah bei ihr steht. Dabei ist es klar, dass sie nicht mit uns spricht. »Oh, nein … oh nein, oh nein, oh nein. Geh jetzt weg«, sagt sie sanft, als spräche sie mit einem störrischen Kind. »Geh weiter. Ich bin es nicht. Ich bin nicht diejenige. Ich habe dich nicht gerufen.« Ihre Stimme, bislang ruhig, bricht unter der Anspannung vorgetäuschter Gelassenheit zusammen. »Es nutzt nichts. Sie
wollen nicht hören. Sie kommen wegen …« Sie wendet sich mir zu und senkt ihre Stimme zu einem Wispern, als ob uns jemand belauschen würde. »Sie kommen wegen Ihnen. Wegen Ihnen … und wegen Ihrer Schwester.« Sie ist völlig klar und schaut mir mit einer solchen Offenheit in die Augen, dass mir nicht einmal der Gedanke kommt, sie könnte nicht bei Verstand sein, obwohl diese Vermutung angesichts ihrer Worte naheliegt.
    Es wird still im Raum. Ich weiß nicht, wie lange wir in verblüfftem Schweigen dasitzen, bis Sonia endlich blinzelt und sich umschaut, als ob sie ihre Umgebung zum ersten Mal sähe. Als ihr Blick auf mich fällt, richtet sie sich auf und fixiert mich mit anklagenden und verängstigten Augen.
    »Sie hätten nicht herkommen sollen.«
    Ich blinzle verdattert. »Was … was bedeutet das?«
    Sie schaut mir in die Augen, und selbst im schwachen Kerzenschein kann ich sehen, dass sie tatsächlich blau sind, genau wie ich dachte. Nicht das tiefe Ozeanblau von James’ Augen, sondern ein helles, klares Blau wie das Eis, das sich im Winter an der tiefsten Stelle eines Sees bildet.
    »Sie wissen es«, sagte sie leise. »Sie müssen es wissen.«
    Ich schüttele den Kopf und vermeide es, die anderen Mädchen anzuschauen.
    »Bitte, Sie müssen jetzt gehen.« Sie stößt sich so heftig vom Tisch ab, dass ihr Stuhl nach hinten überkippt.
    Schockiert schaue ich zu ihr hoch, wie erstarrt auf meinem Stuhl.
    »Na, wenn das nicht ein Haufen Unfug ist!« Alice steht
auf und durchbricht mit ihrer Stimme die ehrfürchtige Stille. »Komm, Lia. Lass uns gehen.«
    Sie marschiert zu mir, zieht mich vom Stuhl und wendet sich steif zu Sonia, die immer noch einen solch erschreckten Ausdruck auf dem Gesicht trägt, dass ich beinahe wieder in meine Starre zurückfalle. »Danke, Miss

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