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Die Prophezeiung der Schwestern - 1

Die Prophezeiung der Schwestern - 1

Titel: Die Prophezeiung der Schwestern - 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Zink
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folgen. Es ist wie eine unwillkürliche Zuneigung, wie die Erfüllung eines Sehnens, als ob dieses Ding schon immer mir gehört hat, obwohl ich es vor dem heutigen Tag noch nie gesehen habe - all dies bringt mich dazu, das Armband wieder abzulegen. Ich öffne die Schublade meines Nachttischs und schiebe das samtige Knäuel in die hinterste Ecke.
    Ich bin schrecklich müde. Kaum dass mein Kopf das Kissen berührt, falle ich in einen tiefen, traumlosen Schlaf. Die Schwärze, die mich einhüllt, ist absolut, und in dem Augenblick, ehe alles von mir abfällt, ahne ich, wie sich der Tod anfühlt.

    Ich fliege, hoch hinauf und hinaus, über meinen Körper hinweg. Mein schlafendes Ich liegt unter mir, und ein unglaubliches Hochgefühl bemächtigt sich meiner, als ich mich von ihm löse und geradewegs durch das geschlossene Fenster davonschwebe.
    Ich hatte schon immer seltsame Träume. Meine frühesten Erinnerungen drehen sich nicht um Dinge aus dem wirklichen Leben, nicht um die Stimme meiner Mutter oder um die schweren Schritte meines Vaters in der Eingangshalle, sondern sie bestehen aus geheimnisvollen und namenlosen Formen und meiner eigenen wilden Flucht durch Wind und Bäume.
    Doch bis zu Vaters Tod hatte ich noch nie einen Traum, in dem ich fliege, jedenfalls nicht, soweit ich mich erinnere. Aber seitdem kommen solche Träume fast jede Nacht zu mir, und so bin ich nicht überrascht, als ich über das Haus hinweggleite, über die Hügel und die Straße, die von unserem Anwesen wegführt. Schon bald bin ich über der Stadt und ergötze mich daran, wie anders alles aussieht im Nebel meines Traums, im Mysterium der Nacht.
    An Wycliffe vorbei und an dem Buchladen, vorbei an dem Haus von Sonia Sorrensen, lasse ich die Stadt hinter mir und wende mich der Schwärze der ausgebreiteten Felder zu. Der Himmel über mir, um mich herum, glüht. Er ist nicht nachtschwarz, sondern von einem tiefen und endlosen Blau, mit einem Schimmer Violett dort, wo er am tiefsten zu sein scheint.
    Bald schon bin ich über einer großen Stadt. Gebäude
recken sich gen Himmel und riesige Fabriken spucken graue Wolken in die Nacht, aber ich kann den Rauch nicht riechen. Ich erreiche den Stadtrand, und für den Bruchteil einer Sekunde erstreckt sich die Küste eines Ozeans vor meinen Augen, der so weit ist, wie das Auge reicht. Und dann - zu meinem unbändigen Entzücken - bin ich über dem Meer.
    Und jetzt kann ich es riechen.
    Die salzige Feuchtigkeit dringt mir in die Nase und ich lache laut vor Glück. Ein gischtdurchweichter Wind bläst mir in die Haare, und in diesem Moment wäre ich zufrieden damit, wenn ich ewig so weiterfliegen, mich dem indigofarbenen Himmel überlassen könnte, durch den ich gleite. Einen Augenblick lang wundere ich mich, dass sich in diesem Traum mein Körper genauso anfühlt, als wäre ich wach und flöge tatsächlich über den Ozean, doch dann lasse ich den Gedanken ziehen und ergebe mich wieder diesem maßlosen Entzücken des Fliegens.
    Weiter und weiter fliege ich hinaus über das Wasser, bis die Stadt nicht mehr ist als ein winziger Fleck in der Ferne. Während das Meer unter mir rauscht und braust, gemahnt mich eine leise Stimme zurückzukehren, flüstert mir zu, dass ich zu weit gegangen sei, aber die Warnung ist nicht mehr als ein Schatten. Ich beachte sie gar nicht, sondern genieße die berauschende Freiheit meiner Reise in vollen Zügen, rase über die Wellen hinweg und hinauf in den geheimnisvollen Himmel.
    Aber die Warnung wird lauter und drängender, bis sie nicht mehr nur flüstert, sondern zu einer Stimme erwächst,
die ich nicht länger ignorieren kann. Es ist die Stimme eines Mädchens.
    »Kehr um!«, ruft mir die Stimme zu, wie durch einen Knebel gedämpft und abgehackt. »Du bist zu weit gegangen! Du musst umkehren!«
    Etwas an dieser Stimme veranlasst mich dazu, anzuhalten, und ich merke überrascht, wie ich in der Luft stehe, nicht fliege, aber auch nicht ins Meer meiner Träume sinke. Und dann fühle ich es.
    Etwas Unheimliches nähert sich mir brüllend, rast in einer wilden Jagd auf mich zu, die mich endlich zur Umkehr zwingt.
    Ich fliege durch den Himmel in die Richtung, in der ich das Land vermute. Innerhalb kurzer Zeit habe ich eine unglaubliche Kontrolle über meine Geschwindigkeit und meinen Flug bekommen, und obwohl die Angst mein ganzes Sein zum Vibrieren bringt, schenkt mir dieses neu gewonnene Wissen, diese neue Macht, ein ungeheures Glücksgefühl.
    Aber durch meine freudige Erregung

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