Die Prophezeiung der Schwestern - 1
sich zu etwas Unbekanntem verdrehen, in dessen Kern ich Wahrheit erkennen kann.
Aber Sonia ist sich meiner Gedanken nicht bewusst, und sie fährt fort, als ob meine Welt in diesem Augenblick nicht das Innerste nach außen kehren würde. »Der einzige Grund, warum ich dir diese Geschichte erzähle, ist das Zeichen. Weißt du, es wird behauptet, dass die Jormungand das Symbol für die Seelen ist.«
Ich bemühe mich um ein gelassenes Gesicht. Wenn ich mich hinreißen ließe, wenn ich ihr die Panik offenbarte, die ich empfinde, würde mich das Wenige an Vernunft, was mir noch geblieben ist, auch noch im Stich lassen. »Also schön. Wir beide haben dieses Zeichen. Aber ich verstehe
immer noch nicht, was für eine Rolle wir in einer derart bizarren Geschichte spielen sollten.«
Sie seufzt resigniert, steht auf und fängt an, vor mir auf und ab zu gehen. »Ich auch nicht. Aber ich habe es satt, mich allein zu fürchten. Ich habe keine Schwester. Ich habe gehofft …« Ihre Stimme wird weich, und sie bleibt stehen, um mich anzuschauen. »Ich habe gehofft, dass ich mich nicht irre. Dass du auch das Zeichen hast und wir das Rätsel gemeinsam lösen können.«
»Also gut.« Ich neige leicht den Kopf und fordere sie mit meinen Augen heraus. »Dann lass uns mal über letzte Nacht reden. Du kannst damit anfangen, indem du mir erklärst, was um aller Welt da aus dem Himmel gefallen kam.«
Mit wenigen Schritten überwindet sie den Abstand zwischen uns, bleibt vor mir stehen und nimmt mit einem schiefen Lächeln meine Hand. »Du bist nur mit den Schwingen gereist, Lia. Du bist gewandert. Hast du das wirklich noch nie zuvor getan?«
Ich schüttele den Kopf. »Nicht dass ich wüsste. Und was sind die Schwingen überhaupt?«
»Etwas ganz und gar Erstaunliches«, haucht sie. »Eine Art … Pforte in die Anderswelten. Ein Ort, wo alles möglich ist.«
Ich erinnere mich an das Hochgefühl, das mich durchströmte, als die Erde unter mir dahinzog und der Himmel so tief und endlos war wie der Ozean. Und dann erinnere ich mich an etwas anderes. »Und was ist mit diesem … Ding? Diesem dunklen Ding?«
Sie wird wieder ernst und das Leuchten in ihren Augen erlischt. »Die Wände zwischen der irdischen Welt und den Anderswelten sind dünn, Lia. Dadurch wird etwas so Wundervolles wie Reisen mit den Schwingen erst möglich. Aber genau daher rührt auch die Gefahr. Was dir letzte Nacht gefolgt ist … Seine Stärke ist mit nichts zu vergleichen, was ich kenne, und ich bin auf meinen Reisen schon vielen Geschöpfen begegnet, manche gut, manche böse.«
»Glaubst du, es hat etwas mit dem Zeichen zu tun? Mit der Prophezeiung?«
Wieder kaut sie auf ihrer Unterlippe. »Ich weiß es nicht, aber die Gesetze der Anderswelten sind kompliziert. Du musst ihre Natur begreifen, um dich gefahrlos dort zu bewegen.«
Mein Ärger kehrt zurück. »Und wie soll ich das anstellen? Wie soll ich etwas so Unbegreifliches begreifen? Miss Gray und die Lehrerinnen in Wycliffe würden mich ja für verrückt erklären, wenn ich ihnen derartige Fragen stellen würde!«
Sie kichert hinter vorgehaltener Hand. »Nein, es wäre sicher keine gute Idee, in Wycliffe um Rat zu fragen. Aber deine Stärke wird wachsen, wenn du dich an das Reisen gewöhnst, und du hast bereits eine gewisse Autorität, auch wenn du dir dessen nicht bewusst bist.«
»Was willst du damit sagen?«
»Dieses … Ding. Dieses … Geschöpf. Ich glaube, es war auf deine Seele aus.«
Ich verstecke meinen Schreck unter einem kurzen Lachen. »Meine Seele?«
Sonia dagegen lacht nicht. »Hör zu, Lia. Da ist etwas, das du unbedingt wissen musst, wenn du mit den Schwingen reist. Die Seele kann nur eine gewisse Zeit ohne den Körper sein. Irgendwann wird die Astralschnur, die Verbindung zwischen Körper und Seele, durchtrennt. Wenn das geschieht, kann die Seele nie mehr zurückkehren.«
»Willst … willst du damit sagen, dass der Körper dann leer wäre, wie bei einem Toten?« Meine Stimme klingt schrill. Ein Anflug von Hysterie erfasst mich.
Sie hebt die Hände und versucht, mich zu beruhigen. »Es geschieht nur selten, verstehst du? Es gibt nicht viele in den Anderswelten, die stark genug sind, eine Seele von ihrem lebenden Körper zu trennen. Aber es kann passieren.« Sie schluckt, und obwohl sie sich Mühe gibt, kann sie ihre Furcht nicht ganz verbergen. »Ich … Ich habe von einem Ort gehört, einem entsetzlichen Ort, der Abgrund genannt wird. Es ist ein Ort, wohin die körperlosen Seelen
Weitere Kostenlose Bücher