Die Prophezeiung der Schwestern - 1
Ordnung?«
Er starrt mich lange an und setzt gerade zum Sprechen an, als Alice um die Ecke ins Zimmer kommt. Wir beide drehen uns zu ihr um, aber als ich mich wieder Henry zuwende,
sehe ich, dass er den Blick gebannt auf Alice gerichtet hält.
»Henry? Alles in Ordnung?«, frage ich noch einmal.
Alice hebt die Augenbrauen und schaut ihren Bruder fragend an. »Ja, Henry. Ist alles in Ordnung?«
Er braucht einen Moment, um zu antworten, und als er den Mund öffnet, richtet er das Wort an Alice, nicht an mich. »Ja. Ich lese bloß.« Ein Hauch von Rechtfertigung hat sich in seine Stimme geschlichen, aber noch bevor ich darüber nachdenken kann, betritt Tante Virginia das Zimmer.
»Lia?« Sie bleibt im Türrahmen stehen und auf ihrem Gesicht liegt ein seltsamer Ausdruck. »Da ist jemand, der dich sprechen möchte.«
»Mich? Wer ist es?«
Ihre Augen zucken nervös von meinem Gesicht zu Alice und dann wieder zu mir. »Sie sagt, ihr Name sei Sonia. Sonia Sorrensen.«
Sonia und ich legen den Weg den Hügel hinauf zu der Klippe, die das Wasser überragt, schweigend zurück. In dem Vakuum der Worte, die wir nicht aussprechen, konzentriere ich mich auf den Himmel, auf das schier endlose Saphirblau. Ich kann beinahe die Wölbung des Horizonts sehen, und ich frage mich, wie irgendjemand beim Anblick dieses Himmels bloß auf den Gedanken kommen konnte, die Erde sei flach.
Ich versuche, nicht an Alice zu denken, an ihre nur
mühsam unterdrückte Wut, als sie den Namen meiner Besucherin hörte. Ich war sowohl erleichtert als auch überrascht, dass sie das Wohnzimmer verließ, bevor Tante Virginia Sonia hereinbrachte. Ihr Rückzug entband mich von der Notwendigkeit, ihr eine Erklärung zu liefern, aber ich gebe mich keinen Illusionen hin: Tante Virginias Anwesenheit hat mir nur einen Aufschub verschafft. Einen so unerwarteten und überraschenden Besuch wird Alice nicht fraglos hinnehmen.
Als Sonia das Schweigen bricht, liegen meine Nerven vor lauter unausgesprochenen Worten blank.
»Du darfst nicht so weit gehen, Lia.« Ihr Blick ist in die Ferne gerichtet, als ob sie überhaupt nichts gesagt hätte.
Ein unvermittelter und heftiger Ärger macht sich in meiner Brust breit. »Sag mir, wie man ›weit‹ in diesem Fall bemisst, Sonia. Vielleicht kannst du mir sagen, wie man Entfernungen abschätzt, wenn man, losgelöst von seinem Körper, durch die Nacht fliegt.«
Es dauert eine Weile, bis sie antwortet. Ihr Profil ist scharf umrissen und so schön wie die Marmorstatuen, die wir in Wycliffe immer skizzieren. »Ja. Es muss verwirrend sein. Wenn du es noch nie zuvor getan hast, meine ich.« Ihre Stimme ist nur ein Murmeln.
»Wenn ich es noch nie … Aber natürlich habe ich es noch nie zuvor getan!« Ich bleibe stehen und zerre an ihrem Arm, sodass auch sie nicht weitergehen kann. »Warte mal! Willst du damit sagen, dass du es früher schon getan hast?«
Sie schaut mir in die Augen, zuckt mit den Schultern und zieht ihren Arm weg. Sie dreht sich um und steigt weiter den Hang empor, der zum See führt. Ich haste ihr hinterher und bin außer Atem, als ich zu ihr aufschließe.
»Willst du mir nicht antworten?«
Sie seufzt und schaut mich im Gehen von der Seite her an. »Ja, also schön. Ich habe es schon vorher getan. Ich tue es, seit ich ein Kind war. Manche Menschen tun es, ohne sich dessen bewusst zu sein. Sie glauben zum Beispiel, dass sie träumen. Andere können es auf Kommando. Sogar viele. Jedenfalls viele Menschen in meiner Welt.«
Sie sagt dies, als ob wir nicht Seite an Seite über denselben Boden gehen würden, als ob sie sich in einem unbekannten Winkel des Universums befände, unsichtbar und unerreichbar für mich.
»In deiner Welt? Was willst du damit sagen?«
Sie lacht leicht. »Stammen wir nicht aus unterschiedlichen Welten, Lia? Du wohnst in einem prächtigen Haus, umgeben von deiner Familie und allem, was dir lieb und teuer ist. Ich lebe in einem kleinen Haus, bewacht von Mrs Millburn, und die einzige Gesellschaft, die ich habe, ist die anderer Spiritisten und jener Menschen, die mich dafür bezahlen, Dinge zu sehen, die sie selbst nicht sehen können.«
Ihre Worte beschämen mich. »Es … tut mir leid, Sonia. Ich glaube, es war mir nicht klar, dass dieses Haus nicht dein Heim ist und die Frau - Mrs Millburn - nicht deine Verwandte.«
Selbst ihrem Profil ist anzusehen, dass sie verärgert ist.
»Um Himmels willen! Bemitleide mich nicht! Ich bin ganz zufrieden mit dem, was ich habe.«
Aber sie
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