Die Prophezeiung der Schwestern - 1
sein müsste, wo unsere religiöse Erziehung bestenfalls wahllos war. »Es waren Engel, weißt du, bevor sie gefallen sind.«
Eine Geschichte über Engel oder … Dämonen, glaube ich.
Ausgestoßen aus dem Himmel …
Sie fährt fort, das Erkennen, das mich durchzuckt, nicht bemerkend. »In der bekanntesten und am weitesten verbreiteten Version heißt es, dass sie aus dem Himmel vertrieben wurden, als sie irdische Frauen heirateten und Kinder zeugten. Aber das ist nicht die einzige Version.« Sie zögert, beugt sich nieder, hebt einen Stein auf und reibt ihn an ihrem Rocksaum sauber, ehe sie mich anblickt. »Es gibt noch eine andere. Eine, die kaum mehr erzählt wird.«
Ich falte die Hände in meinem Schoß und versuche, die Unruhe zu unterdrücken, die in mir hochsteigt und durch mein Bewusstsein hämmert. »Erzähl weiter.«
»Die Version besagt, dass die Wächter von Maari aufgewiegelt wurden.«
Verständnislos blicke ich sie an. »Von wem?«
»Von einer der Schwestern. Einer der Zwillingsschwestern.«
Die Schwestern. Die Zwillinge.
»Ich habe noch nie von einem Zwilling dieses Namens in der Bibel gehört. Natürlich bin ich keine Gelehrte, aber trotzdem …«
Sonia wiegt den runden, flachen Stein in ihrer Hand. »Das kommt daher, weil er nicht in der Bibel zu finden ist. Es ist eine Legende, ein Mythos, der von Generation zu Generation weitererzählt wurde. Ich behaupte nicht, dass die Geschichte wahr ist. Ich erzähle sie dir nur, weil du es wolltest.«
»Also gut. Erzähle mir alles. Erzähle mir von den Schwestern.«
Sie lehnt sich auf dem Felsen zurück. »Es wird gesagt, dass Maari, eine Menschenfrau Samael verführte, den Engel, der Gott am nächsten stand. Samael versprach Maari, dass er, wenn sie einen Engelsmenschen gebären würde, ihr alles Wissen verraten würde, das ihr als Mensch verborgen blieb. Und so geschah es.
Nachdem die gefallenen Engel, auch Wächter genannt, die Frauen der Menschen als Gemahlinnen nahmen, statteten sie ihre Gefährtinnen mit jeglicher Art von Zauberkraft aus. Einige der … begeisterungsfähigeren Mitglieder unserer Gesellschaft sind der Meinung, dass dies der Ursprung des Spiritismus war.«
»Und dann? Was geschah, nachdem die Wächter sich
menschliche Frauen genommen und ihr Wissen mit ihnen geteilt hatten?«
Sonia zuckte mit den Schultern. »Sie wurden verbannt, gezwungen, auf ewig die acht Anderswelten zu durchlaufen, bis zur Götterdämmerung, oder - wie die Christen es nennen - bis zur Apokalypse. Oh, und danach wurden sie auch nicht mehr Wächter genannt.«
»Sondern?«
»Die verlorenen Seelen.« Die Stimme versagt ihr, als ob sie Angst hätte, die Worte laut auszusprechen. »Es heißt, dass es einen Weg gibt, wie sie die irdische Welt wieder betreten können. Durch die Schwestern, von denen eine der Wächter ist und die andere das Tor.«
Mein Kopf zuckt nach oben. »Was sagst du da?«
Sie schüttelt den Kopf. »Nur, dass es einen Weg …«
»Nein. Danach. Über die Schwestern.«
Aber ich weiß es bereits. Natürlich weiß ich es.
Eine kleine Falte bildet sich auf ihrer Nasenwurzel, als sie sich erinnert. »Nun … So, wie ich die Geschichte kenne, fahren die Schwestern einer bestimmten Blutlinie mit dem Kampf fort, sogar heute noch. Eine ist der Wächter des Friedens in der irdischen Welt, die andere das Tor, durch das die Seelen eindringen können. Wenn die Seelen jemals wieder ihren Weg in unsere Welt finden, wird die Götterdämmerung anbrechen. Und die gefallenen Engel werden die Schlacht mithilfe so vieler verlorener Seelen ausfechten, wie sie in den Anderswelten finden können. Nur … Ich habe gehört, dass es da einen Haken gibt.«
»Was für einen Haken?«
Sie runzelt die Brauen. »Nun, es wird behauptet, dass die Armee der Seelen nicht ohne Samael, ihren Anführer, in die Schlacht ziehen kann. Samael seinerseits kann aber nur durch das Tor treten, wenn er von der Schwester, die dazu bestimmt ist, gerufen wird. Es heißt, dass die Armee sich versammelt und in großer Anzahl durch die Pforten in unsere Welt strömt. Sie wartet …«
»Auf was?«
»Auf Samael. Auf das Untier, das die meisten Satan nennen.«
Sie sagt es fast beiläufig, und ich merke, dass ich nicht einmal überrascht bin.
8
D ie Welt wird still. In meinem Geist gibt es kei-nen Raum für den Wind in den Bäumen oder für das Wasser, das unterhalb der Klippe ans Ufer leckt. Keinen Raum für irgendetwas, außer den Tentakeln der Prophezeiung, die
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